Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
durchgeschaltet war. Dann ertönte das Rufzeichen.
»Schröder«, klang es barsch an sein Ohr.
»Hier Kilian.«
»Gut angekommen?«
»Geht so. Hast du mit Patrizia schon gesprochen?«
»Gerade eben.«
»Und? Wie hat sie’s aufgenommen?«
»Äußerlich war sie gefasst. Eines Tages musste es ja passieren, hat sie gesagt. Aber du kennst sie ja. Nach außen…«
»Und die Kleinen?«
»Sind bei der Oma. Sie will erst mal ein paar Tage alleine sein.«
»Hat sie nach mir gefragt?«
»Nicht direkt. Aber ich hab ihr gesagt, dass du heil davongekommen bist.«
»Macht sie mir Vorwürfe?«
»Nein. Nicht direkt.«
»Was meinst du? Nicht direkt?«
»Meine Güte, Jo«, sagte Schröder aufgebracht, »das weißt du doch selber. Du kennst sie doch.«
Kilian schwieg.
»Also, was gibt’s?«, fragte Schröder ungeduldig.
»Hör zu, ich will hier raus. Und zwar schnell.«
»Vergiss es!«, kam es scharf zurück.
»Was soll das heißen? Vergiss es! Du hast mir die Suppe eingebrockt und …«
»Ich hab dir gar nichts eingebrockt. Dafür hast du schon selbst gesorgt. Ich habe für dich getan, was ich konnte. Du solltest froh sein, dass du überhaupt noch einen Job hast.«
»Schröder …«
»Halt die Klappe. Du bleibst, wo du bist. Ich werde hier unten die Sache wieder ins Lot bringen. Und dann ist da ja noch das Problem namens Galina, wie du nur zu genau weißt. Weil du ja nicht fähig warst, im richtigen Augenblick …«
»Sie war zu weit weg.«
»Erzähl mir keinen Scheiß. Weiß der Teufel, was dich da wieder geritten hat. Du bist zum Risiko geworden. Verstehst du? Ich muss mir überlegen, ob ich dich überhaupt noch zu einem Einsatz schicken kann, wenn eine Frau dabei ist. Was ist nur los mit dir? Früher konnte ich mich auf dich verlassen … und Paolo konnte das auch.«
Kilian schwieg. Schröder hatte Recht. Warum hatte er nicht abgedrückt? Was machte es ihm so schwer, eine Kriminelle umzulegen? Er war doch autorisiert, bei Fluchtgefahr zu schießen. Nichts hätte ihm passieren können, die Staatsgewalt hätte ihm noch einen Orden dafür verliehen. Jetzt fühlte er sich doppelt geleimt – die eine gute Frau hatte er in die Depression geschickt, und die böse hatte er laufen lassen. Das kostete ihn einen Freund, einen Job und seine Freiheit.
»Also, zum letzten Mal. Du bleibst, wo du bist. Wenn sich der Staub gelegt hat, dann können wir nochmal darüber sprechen. Bis dahin verhalt dich ruhig und mach deinen Job.«
Kilian konnte ihm nicht mehr widersprechen, und Schröder fuhr unbeirrt fort: »Hast du deine Mutter schon getroffen?«
Kilian schluckte und rang nach einer Ausrede. Er ergriff den Apparat, lief zum Fenster und wieder zurück. Nein, nur nicht das, sagte er zu sich.
»Hast du deine Mutter schon getroffen?«, wiederholte Schröder die Frage.
»Es war noch keine Zeit.«
»Dann mach ran. Wie lange willst du sie noch dafür büßen lassen?«
»Ja, ja, ich werde sie anrufen«, wich Kilian aus.
»Geh zu ihr. Es wird Zeit.«
»Woher willst du das denn wissen?«, schrie er in den Hörer und knallte ihn auf die Gabel.
Was bildete sich dieser Schröder überhaupt ein?, fragte sich Kilian. Wollte er jetzt noch Seelendoktor oder Pfarrer spielen? War ihm Ziehvater nicht genug? Kilian schnappte sich den Zimmerschlüssel und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
*
Das ganze Areal stank zum Himmel, wie die drei anderen Hühnerfarmen zuvor. Doch was weit schlimmer war, waren die Zustände. Die Eier rollten auf schmalen Gestängen reihenweise aus allen Richtungen zusammen, und hin und wieder durchfuhr ein aufgebrachtes Gegacker die tristen Hallen. Eingepfercht in Käfige, die nicht größer waren als ein Einkaufskorb, hackten sich die hysterischen Hühner die letzten Federn vom Leib. Die einzige Gnade, die man ihnen erweisen konnte, war, schnellstens ihr erbärmliches Leben zu beenden. Wenn er diese Zustände sah, kam er sich fast wie ein Samariter vor, weil er einen Teil der Hühnerlieferung auf der Frankfurter Autobahn regelrecht befreit hatte. Aber hier, hier hatte niemand ein Einsehen mit geschundenen Kreaturen. Am liebsten hätte er seinen Wagen gestartet und vollendete Tatsachen geschaffen. Dann wäre er als Hühnerretter in die mainfränkischen Annalen eingegangen. Aber da war ja noch seine Familie. Er war sich nicht sicher, ob sie das verstanden hätten. Daher schwor er sich, mehr auf seine Claudia zu hören. Wie bei fast allem, wenn es darum ging, hinter die Fassade zu blicken.
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