Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
flach auf den Schreibtisch, drückte ein wenig und hob sie leicht an: Schon war das Zittern wieder da.
»Wir sollten nach Hause gehen, Lorenzo«, sagte er, ohne von der Hand aufzublicken.
»Ja«, pflichtete Vianello ihm bei und stemmte sich hoch. »Das war einfach zu viel heute.«
Brunetti hätte dazu gern noch etwas bemerkt, vielleicht gar einen Scherz über die Erlebnisse des Vormittags gemacht, aber ihm fiel nichts ein. Er hatte oft gehört, Schockierendes wie das, was sie gesehen hatten, hinterlasse dauerhafte Spuren oder kremple einen Menschen von Grund auf um. Doch davon keine Rede. Er hatte Entsetzen und Ekel verspürt, aber er wusste, verändert hatte ihn das nicht. Fragte sich nur, ob das ein gutes Zeichen war oder nicht.
»Wie wär’s? Treffen wir uns morgen früh vor seiner Praxis?«, schlug Brunetti vor.
»Um neun?«
»Gut. Hoffentlich ist er morgen da.«
»Und wenn nicht?«
»Setzen wir uns in eine Bar, schauen eine Weile den Booten zu und kommen eben zu spät zur Arbeit.«
»Das lässt sich hören, Commissario«, sagte Vianello.
Als Brunetti aus der Questura ins Freie trat, senkte sich die ganze Last des Tages auf ihn herab. Für einen Augenblick wünschte er, in einer Stadt zu leben, wo man einfach ein Taxi nehmen konnte, ohne sechzig Euro bezahlen zu müssen, egal wie kurz die Strecke war. Zum ersten Mal seit undenklichen Zeiten war ihm der Fußmarsch nach Hause zu weit, also schlenderte er zur Anlegestelle San Zaccaria, um auf die Nummer eins zu warten.
Die linke Hand zur Faust geballt in der Tasche, versuchte er, bewusst nicht daran zu denken, und widerstand dem Drang, sie herauszunehmen und anzusehen. Da er eine Monatskarte hatte, konnte er sein Portemonnaie steckenlassen.
Das Vaporetto kam, er stieg ein, ging in die Kabine und setzte sich. Kaum legte das Boot ab, konnte er seine Neugier nicht mehr zügeln und nahm die Hand aus der Tasche. Er legte sie mit gespreizten Fingern auf seinen Oberschenkel, sah sie aber nicht an, sondern hielt nach dem Engel über der Kuppel von San Giorgio Ausschau, der im rasch schwindenden Licht noch sichtbar war.
Er spürte kein Zittern an seinem Schenkel, doch bevor er den Blick senkte, hob er vorsichtig die Hand einen Zentimeter an und hielt sie ein paar Sekunden so, während er sich weiter mit dem Engel besprach, der dort seit Jahrhunderten wachte. Schließlich sah er nach seinen Fingern: Sie zitterten nicht. Entspannt ließ er sie sinken.
»So viele Dinge«, murmelte er und wusste selbst nicht recht, was er damit meinte. Die junge Frau neben ihm sah ihn erschrocken an und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu. Keine Italienerin, dachte er, obwohl er nur kurz hingeschaut hatte. Französin vielleicht. Keine Amerikanerin. Und keine Italienerin. Da fuhr sie auf einem Boot den Canal Grande hinauf und hatte nur Augen für ihr Kreuzworträtsel, das so klein gedruckt war, dass Brunetti die Sprache nicht erkennen konnte. Er sah nach dem Engel, was der dazu meinte, und als der schwieg, wandte Brunetti sich ab und studierte die Gebäude am rechten Ufer.
In seiner Kindheit waren sie in diesem Kanal und in vielen der anderen großen geschwommen. Er erinnerte sich, wie er an den Fondamenta Nuove ins Wasser gesprungen war und wie ein Klassenkamerad einmal von der Giudecca bis Zattere geschwommen war, weil er keine Lust hatte, spätabends auf ein Boot zu warten. Brunettis Vater hatte als Kind an der riva von Sacca Fisola noch seppie gefangen, aber das war, bevor die petrochemische Industrie nicht nur Marghera auf der anderen Seite der laguna, sondern auch die Tintenfische kaputtgemacht hatte.
Er stieg bei San Silvestro aus, ging durch den sottoportego und wandte sich nach links; er wollte nur noch nach Hause, ein Glas Wein trinken und dazu eine Kleinigkeit essen. Mandeln vielleicht, irgendetwas Salziges. Einen nicht moussierenden Weißwein: Pinot Grigio. Ja, das wäre etwas.
Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, hörte er Paola aus der Küche rufen: »Wenn du etwas trinken möchtest – im Wohnzimmer steht schon was zum Knabbern. Den Wein bringe ich gleich.«
Brunetti hängte seine Jacke auf und folgte ihrem Vorschlag wie einem Befehl. Im Wohnzimmer war zu seiner Überraschung das Licht an, und noch größer war seine Überraschung, als er bei einem Blick aus dem Fenster feststellen musste, dass es schon fast vollständig dunkel war. Auf dem Boot, mit seinen Fingern beschäftigt, hatte er den Sonnenuntergang gar nicht bemerkt.
Auf dem Sofatisch
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