Tiffany Duo Band 0124
abzuwenden.
Doch das war leichter gesagt als getan. Sie hatte schon Hunderte von Männern nackt gesehen. Patienten. Ohne dass sie sich je etwas dabei gedacht hätte. Patienten waren Patienten.
Jack hingegen war Jack. Ein Krieger — er hatte zahlreiche Narben auf Brust und Rücken — mit dem Körper eines Kriegers. Bei ihm war nichts normal oder Routine. Weder die Art, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb schlitterte, als ihr Blick die Michelangelo-Statur unter seinen Kleidern erfasste, noch das Gefühl, einen Faustschlag in den Magen bekommen zu haben, wenn sie sich vorstellte, den Kampf um sein Leben zu verlieren.
Sie sagte sich, dass sie keinen guten Grund brauchte, um sein Leben zu retten. Leben zu retten war schließlich ihr Beruf. Ihre Pflicht. Aber da war noch mehr, etwas anderes, schwer Fassbares, das sie miteinander verband. Er brauchte sie. Und auf eine seltsame Weise brauchte sie ihn ebenfalls. Wenn er überlebte, würde sie diese letzten zwei quälenden Jahre hinter sich lassen können, und ihr Glaube an ihre ärztlichen Fähigkeiten würde wiederhergestellt sein. Starb er jedoch, würde dies ihre Selbstzweifel nur bestätigen.
Doch als sie mit ihren Fingern über seinen muskulösen Arm fuhr, um seinen Puls am Handgelenk zu ertasten, wusste sie, dass es mehr als das war. Sie brauchte ihn, um zu überleben, weil sie sich zum ersten Mal seit Adams Tod lebendig fühlte.
Und sie musste wissen, warum das so war.
Für den Rest des Tages kämpfte Tess mit kalten Umschlägen gegen das Fieber an, das in Jacks Körper wütete. Wenn er für kurze Zeit aus seinen wirren Fieberfantasien erwachte und die Augen aufschlug, nötigte sie ihn, fiebersenkende Säfte zu schlucken und Wasser zu trinken, bis er erschöpft wieder einschlief. Sie hatte ihm einen Trank aus heißer Milch und Leinsamenöl gebraut, den sie alle paar Minuten aufwärmen musste und ihm einflößte, sobald er aufwachte. Die ständige Wiederholung dieses Tuns hielt sie auch während der Nacht wach.
Vor Stunden schon hatte sie damit aufgehört sich einzureden, dass sie ihn allein aus reiner Selbstlosigkeit retten wollte. Sie wusste, dass sie ebenso einen persönlichen Kampf kämpfte und dass sein Tod etwas war, das sie nicht hinnehmen konnte. Um seinetwillen, aber auch um ihretwillen nicht.
Sie wrang den Waschlappen wieder aus und legte ihn auf seine heiße Stirn. Ihr kam das Zeitgefühl abhanden, und mit den verstreichenden Stunden verließ sie auch ihre Fähigkeit zusammenhängend zu denken. Sie tat automatisch das, was getan werden musste. Nachdem er schließlich eine Stunde am Stück ruhig geschlafen hatte, rollte sie ihre verspannten Schultern und machte den Fehler, sich mit einem Ellbogen auf die Matratze zu stützen, um nach dem Gefäß mit dem Leinsamenöltrank zu greifen. Sie verharrte in dieser Stellung, für den Moment unfähig, sich zu rühren.
Während sie sich auf die weiche Decke sinken ließ, sagte sie sich, dass sie nur für einen Augenblick ausruhen würde. Sie war so müde. Wenn er aufwachte, würde sie es merken. Sie legte ihre Hand auf Jacks Arm und gestattete es ihren Augen zuzufallen.
6. KAPITEL
Als Tess die Augen aufschlug, war es hell. Zuerst glaubte sie, sie hätte das Licht angelassen, aber es war die Morgensonne, die durchs Fenster ins Zimmer flutete, und draußen zwitscherten die Vögel. Träge rollte sie sich auf den Rücken und blinzelte zur Decke hoch, wobei sie überlegte, wie lange sie schon nicht mehr so tief geschlafen hatte.
Sie schnappte nach Luft und schoss hoch.
Jack!
Er lag reglos da. Angst kroch ihr über den Rücken.
“Jack?” Sie berührte seine Stirn. Sie war kalt.
Kalt!
“Oh, nein … Jack! Sei nicht tot. Bitte sei nicht tot. Es tut mir so leid. Ich war einfach so müde. Jack?” Als ihre Finger seinen Puls an seinem Hals ertasteten, öffnete er die Augen.
Sie zuckte zurück und hielt sich die Hand vor den Mund, während ihr die Tränen in die Augen schossen.
“Tess?” Es war ein Krächzen. “Sie sehen schrecklich aus.”
Sie lachte, noch immer die Hand vorm Mund. “Oh, Sie wissen gar nicht, wie gut es ist, das zu hören.” Sie fuhr ihm mit zwei Fingern über den Arm, um sich davon zu überzeugen, dass er wirklich lebte. Dann zog sie die Hand wieder zurück. Was sie wirklich tun wollte, war, ihn zu umarmen. Einem Patienten seine Gefühle zu zeigen war unprofessionell und untypisch für sie. Und doch hätte sie am liebsten gleichzeitig geweint und gelacht.
“Wie lange …?”, fragte
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