Tiger Eye
schützen, nicht einmal er.
Aber auch wenn Hari sie nicht mit seinem Körper beschützen konnte, er würde sie doch mit seinem Herz und seinem Geist bewahren. Das war alles, was er geben konnte, und es war mehr, als ihm selbst jemals jemand geboten hatte.
Als sie vor ihrem Haus ankamen und Hari das Licht in ihrem Fenster sah, schüttelte er den Kopf.
»Lass mich zuerst hineingehen. Es könnte ein Hinterhalt sein, und mich kann er nicht umbringen.«
»Hari!«, protestierte Dela.
»Nein, Delilah. Ich bestehe darauf. Bleib hier bei den anderen. Lasst mir etwas Zeit.«
Er stieg aus, bevor sie widersprechen konnte, und vertraute darauf, dass die anderen sie schon beschützen würden. Er traute zwar niemandem außer sich selbst diese Aufgabe zu, aber diese Männer waren immerhin Delas Freunde und fast, so dachte er, Waffenbrüder. Und er wollte nichts tun, was sie von ihnen entfremdete. Er hatte vor, sehr lange in ihrem Leben zu bleiben, und ein guter Mann erlaubte seiner Partnerin Freiheit in allen Belangen.
Partnerin. Es war ihm unmöglich, sich Dela als etwas anderes vorzustellen, obwohl er sie erst seit so kurzer Zeit kannte. Dela hatte von Anfang an den Mann in ihm gesehen, nicht den Krieger, den Sklaven oder ein Spielzeug. Sondern den Mann. Und deshalb hatte er sich mit ihr angefreundet, es war etwas Seltenes, Wunderschönes, das ein fast schmerzliches Gefühl von Freude in ihm auslöste. Von Freude und Liebe.
Sie liebt mich, dachte er und staunte immer noch über die Ungeheuerlichkeit dieses Glücks. Aber wenn sie Partner waren und sich vereinten, solange er noch mit dem Fluch geschlagen war...
Ich werde Delilah überleben, selbst wenn dieses Leben nur ein Schlafsein wird. Ich werde auch unsere Kinder überleben.
Diese Vorstellung lähmte ihn beinahe. Er konnte sich kein schrecklicheres Schicksal vorstellen, dabei hatte er es bereits erdulden müssen, als seine Familie ihre Schatten an die Erde verloren hatte. Konnte er sich so etwas noch einmal antun? Sich und... auch ihr?
Denk jetzt nicht darüber nach. Du musst einen Mörder fangen.
Der Tiger rührte sich in ihm. Er war dichter an der Oberfläche als jemals zuvor in diesen zweitausend Jahren. Er fühlte beinahe seine Klauen, das Fell auf seiner Haut, und seine Muskeln bewegten sich geschmeidig und flüssig. Sein Blick wurde schärfer, als er die Treppe des Lagerhauses hinaufschlich wie ein Gespenst im Dämmerlicht. Er folgte dem unbekannten Geruch, der ihm in die Nase stieg. Er schmeckte den Mann, nervös und zögernd, roch den Duft nach Schweiß und Gewürzen.
Blue hatte Delas Wohnungstür heute Morgen repariert, und jetzt stand sie einen Spalt offen. Das Lampenlicht fiel in den Flur, Hari schlich dicht an die Tür heran, bis er durch den Spalt in die Diele sehen konnte. Er bemerkte nichts von Bedeutung, hörte jedoch unregelmäßige Atemzüge und witterte die Gegenwart des Mannes hinter der Tür.
Hari drückte mit seinen Fingern gegen die Tür und stieß sie auf.
Seine Instinkte hatten ihm gesagt, was er zu erwarten hatte, und sie hatten sich nicht geirrt. Adam Yao saß im Schneidersitz mitten auf dem Boden mit dem Gesicht zur Tür. Er hielt einen sehr langen Dolch in den Händen.
Als er Hari sah, der auf der anderen Seite der langsam aufschwingenden Tür kauerte, weiteten sich seine Augen, doch bevor er reden oder sich auch nur rühren konnte, hob Hari die Hand. Es war eine gebieterische, fast hypnotische Geste.
»Sie kennen mich nicht«, sagte Hari ruhig, »aber ich habe guten Grund, Sie zu hassen. Ich will Ihren Tod, aber ich beherrsche mich. Sagen Sie mir, warum Sie hier sind. Wollen Sie Delilah töten?«
»Nein.« Adam blinzelte hastig. Ein dünner Schweißfilm stand auf seiner Stirn, doch er bewegte sich noch immer nicht. »Ich bin gekommen, weil ich um Vergebung bitten will.«
»Ah.« Hari seufzte, eine fürchterliche Wut strömte durch ihn. »Also haben Sie sie verraten.«
Adam schüttelte den Kopf. »Nein! Wo ist Dela? Ich muss es ihr ins Gesicht sagen.«
»Ich bin hier, Adam.« Dela trat aus dem Schatten des Flures, Artur und die beiden anderen Männer waren hinter ihr. Hari hatte sie kommen hören. Er wollte nicht, dass sie hier auftauchte, noch nicht. Es war zu früh. Er ahnte, dass Blut fließen würde, und er wollte nicht, dass sie die Erinnerung daran mit sich herumtrug, nicht, solange die Bilder der Gewalttaten, die gerade erst geschehen waren, noch in den Schatten ihrer Augen lagen. Aber er kannte Dela bereits viel zu gut.
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