Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
nicht registrierter Ausländer und hatte keine Familienangehörigen in Nordamerika. Seine Geschichte über den Verwandten in Toronto war gelogen gewesen. Es gab niemanden mehr, der ihn gekannt hatte, niemanden, der sich um ihn kümmerte.
    Hari kannte zwar den Ausdruck »Todesrate« nicht, konnte sich aber gut vorstellen, was er bedeutete. Und er gab Dean recht. Vielleicht sollte sich Dela ein anderes Haus suchen. Denn abgesehen von schlechten Erinnerungen strahlten Orte, an denen Gewaltverbrechen begangen worden waren, auch manchmal eine zerstörerische Energie aus. Er wollte nicht, dass sich solche Kräfte auf Delas Leben auswirkten.
    »Ich kann einfach nicht glauben, wie egoistisch Adam gewesen ist«, meinte Eddie und starrte in sein Saftglas. »Ich meine, abgesehen von dem Mord an dem Kind hat er sich auch noch vor Delas Augen umgebracht! War ihm denn nicht klar, wie sehr das Dela treffen würde?«
    »Ich glaube nicht, dass Delas Gefühle auf seiner Prioritätenliste weit oben standen«, sagte Blue und streckte sich auf der Couch aus. Er hatte ein Kissen auf dem Gesicht liegen, das seine Stimme dämpfte. »Wir alle haben den Mann falsch eingeschätzt. Er war ein egozentrischer Hundesohn.«
    »Aber das ist nicht einfach über Nacht passiert«, erklärte Dean. »Dieser Mann ist durch die Hölle gegangen.«
    Artur sagte nichts. Er war der Einzige, der den Mord »gesehen« hatte, und sie wussten, dass ihn der Tod des Kindes schwer mitgenommen hatte. Niemand wusste, wie Adams Strafe nach Meinung des Russen hätte aussehen sollen, aber sie alle vermuteten, dass sein Tod durchaus eine Möglichkeit war. Allerdings hatte sich Artur gewiss nicht Selbstmord als Todesart überlegt.
    Hari starrte auf die Schlafzimmertür. Dela war in ihr Zimmer gegangen, nachdem die Männer Adams Leiche weggeschafft hatten. Und bisher war sie nicht wieder herausgekommen. Er respektierte ihr Bedürfnis, allein zu sein, aber alles in ihm schrie danach, zu ihr zu gehen.
    Schließlich gab er dem nach. Sie konnte ihn ja immer noch wegschicken.
    Hari klopfte leise an die Tür und öffnete sie so weit, dass er Dela sehen konnte, die sich auf dem Bett zusammengerollt hatte. Ihre Augen glitzerten von Tränen, aber sie bat ihn nicht zu verschwinden. Er trat leise ein und schloss die Tür hinter sich. Dela hickste und unterdrückte ein Schluchzen. Zusammengeknüllte Papiertaschentücher waren überall im Zimmer verteilt, wie kleine Schneehaufen.
    »Erzähl mir von Adam«, sagte Hari und legte sich hinter sie auf das Bett. Er zog Dela in die Arme und hüllte sie mit seinem Körper wie mit einem Löffel ein. »Teil deine Erinnerungen mit mir.«
    Das tat sie. Zögernd zunächst, dann aber mit schnell wachsendem Eifer. Sie unterhielt Hari mit Geschichten aus den gemeinsamen fünf Jahren mit Adam und ihrer Beziehung zu ihm. Erst waren sie Arbeitgeber und Angestellter und später befreundet. Dela redete lange, und Hari hörte größtenteils schweigend zu, bis auf einige wenige Nachfragen.
    »Ich vermisse ihn«, erklärte sie, als ihre Geschichte zu Ende war und sie eine Weile schweigend dagelegen hatten. »Ich kann einfach nicht fassen, dass er tot ist, Hari. Ich... ich sehe immer noch, wie er das Messer hebt, und ich habe das Gefühl, es sei meine Schuld gewesen. Als hätte ich ihn dazu getrieben. Aber ich konnte ihm den Mord an diesem Kind einfach nicht verzeihen, nicht einmal, nachdem er mir erzählt hat, welch schreckliche Dinge sie seiner Familie angetan haben. Ich kann es ihm immer noch nicht verzeihen.«
    »Er hat seine Entscheidung gefällt«, erwiderte Hari ruhig. »Und dann konnte er nicht damit leben. Deine Vergebung hätte das Ende dieser Nacht nicht verändert, Delilah. Adam wollte sterben.«
    Dela erschauerte. »Ich muss immer an die guten Zeiten denken. Wir haben sogar darüber gesprochen, eine Galerie im Geschäftsviertel zu eröffnen. Er sollte Mitinhaber werden.«
    Hari drückte sie fester an sich. »Du solltest dich an die guten Zeiten erinnern. Daran ist nichts verkehrt. Er war dein Freund, aber seine Vergangenheit ist in sein Leben eingedrungen, und er konnte sich nicht beherrschen. Ich habe das schon früher erlebt, Delilah. Gute Männer, die von ihren Feinden zerbrochen wurden, orientierungslos waren, bis dann der Augenblick kam, an dem ihr Charakter geprüft wurde. Ist er stärker als die Gelegenheit, die Wut? Wenn ein Mensch wirklich zerbrochen ist, dann lautet die Antwort nein, weil nichts mehr eine Rolle spielt. Kein Leben, keine

Weitere Kostenlose Bücher