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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Ehre. Er kann zwar so tun, als wären ihm diese Dinge noch wichtig, vielleicht glaubt er es sogar selbst. Aber es ist eine Illusion, die von der perfekten Verführung sofort weggespült wird.«
    Dela schwieg eine Weile, während sie über seine Worte nachdachte. »Was von dem, was deine Meister von dir verlangt haben, hätte dich gebrochen?«
    Ah, sie erinnerte sich daran. Zuerst wusste er nicht, was er antworten sollte, weil die Worte quälend waren, wenn auch nicht so sehr wie die Erinnerungen. Furchtsame Augen, die jeder seiner Bewegungen folgten. Er war die Verkörperung eines Albtraums gewesen.
    »Meine Meister haben mir befohlen, Frauen zu vergewaltigen, und dann sie und auch ihre Kinder zu töten«, erwiderte er schließlich. Er vermochte das Entsetzen dieser Worte nicht zu lindern. »Die der Feinde oder auch ihre eigenen. Für manche war es nur ein grässlicher Sport. Sie sahen ein Kind auf der Straße und befahlen mir, es mit bloßen Händen zu erwürgen. Oder die Tochter eines Kriegsherrn zu missbrauchen, der sie besuchte, nur um ihre Überlegenheit zu zeigen. Ich habe mich geweigert, immer, aber es war ein schrecklicher Kampf. Der Fluch zwang mich, jedem Befehl zu gehorchen, den meine Meister mir gaben, aber so etwas... ? Mein Körper bewegte sich, während mein Geist dagegen ankämpfte, und ich gewann immer. Ich hatte keine Wahl. Wie du selbst sagtest, die Alternative wäre undenkbar gewesen.«
    »Waren das die einzigen Befehle, denen du dich widersetzen konntest?«
    »Ja«, stieß er hervor. »Und ich glaube, ich konnte ihnen nur aus einem einzigen Grund widerstehen: Es ist gegen meine Natur, Frauen und Kindern etwas anzutun. Mein Verstand konnte diese Befehle nicht als real akzeptieren. Wir Tiger sind die Beschützer und Pfleger unserer Familien. Ihnen etwas anzutun ist unvorstellbar.«
    Er hielt inne. »Du verstehst, was das bedeutet, Delilah? Alle anderen brutalen Taten aber, die ich begangen habe, waren immer durchführbar für mich. Nicht so abstoßend.«
    Dela drehte sich in seinen Armen herum, und Hari bemerkte, dass er sie hatte Adam vergessen lassen, wenn auch nur vorübergehend. Sie war vollkommen auf ihn konzentriert, und es nahm ihm den Atem, der Mittelpunkt eines so heftigen, zärtlichen Mitgefühls zu sein. Seine Augen brannten von ungeweinten Tränen. Dela streichelte mit den Fingerspitzen seine Wange und fuhr liebevoll mit dem Daumen über seine Lippen.
    »Du wolltest diese Leute aber nicht töten, Hari.«
    »Nein. Aber wenn ein Mord wirklich gegen meine Natur gewesen wäre, hätte ich den Befehlen widerstehen können.«
    Dela seufzte. »Es steckt ein Tiger in dir. Ein Raubtier. Hast du jemals von einem Tiger gehört, der nicht tötet?«
    »Ich bin auch ein Mensch, Delilah.«
    »Ein Mensch würde aus Notwehr töten, stimmt’s? Wenn du töten konntest, um dich zu retten, dann war die Fähigkeit da. Es war nicht beschämend, aber sie war da und konnte gegen dich benutzt werden.«
    Hari erstarrte. Konnte sie recht haben? War die Logik des Entsetzens so einfach?
    Das spielt keine Rolle. Die Vergangenheit ist vergangen, und keine Logik kann den Tod auslöschen, den ich mit meinen Händen gebracht habe. Ich habe im Kampf getötet, kaltblütig, und Männer ermordet, deren Verbrechen nur darin bestanden, dass sie eine andere Meinung hatten, oder dass ihr Blick sich verirrt hatte. Dafür gibt es keine Vergebung.
    Und dennoch, jetzt vermochte er den Grund besser zu verstehen, konnte die Möglichkeit in sich bejahen, weil kein Monster in ihm lauerte, das nach dem Leid von anderen Menschen gierte...
    Hari schloss die Augen. »Wie habe ich nur überleben können, bevor ich dich traf?«
    Zärtlich küsste Dela seine Wange. »Du bist sehr zäh.«
    Er lachte keuchend, voller Traurigkeit. In diesem einen Laut lagen so viele Erinnerungen, und Dela nahm sie irgendwie wahr.
    »Du wurdest bestraft, weil du den Befehlen nicht gehorcht hast.«
    »Ja«, flüsterte Hari. »Darin waren sie sehr... erfindungsreich. Das Schlimmste, was man sich jemals vorstellen konnte, wurde vermutlich wenigstens einmal an mir ausprobiert.«
    »Und du warst allein. Du hattest niemals einen Freund.«
    »Niemals«, bestätigte er. »Bis du kamst.«
    Dela schmiegte ihren Kopf unter sein Kinn und kuschelte sich an ihn, als befände sie sich in einem warmen Kokon. Hari atmete den Duft ihres Haares ein, den ihrer Haut, und genoss das Wunder, das sich an seinen Körper schmiegte. Er konnte sich kein Leben ohne Dela mehr vorstellen, und

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