Tiger Eye
und stützen Sie mich etwas. Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen.«
»Er hätte Sie fast umgebracht.« Die Stimme des Mädchens klang hasserfüllt.
»Ja«, räumte Dela ein und musterte Lises geschwollenes Gesicht. »Aber mit Ihnen war er auch nicht gerade gnädig.«
Lise wandte den Kopf ab und reichte Dela die Hand. Mit vereinten Kräften gelang es Dela, wenn auch mühsam, aufzustehen. Sie schwankte, aber allein zu stehen war nicht so unmöglich, wie sie gefürchtet hatte. Trotzdem bestand Lise darauf, sie zu stützen. Dela war sehr froh, dass in Lises Fall der Apfel offenbar mindestens einen halben Kontinent entfernt vom Baum gefallen war.
Die schimmernden Kugeln tauchten den Keller immer noch in ein silbriges Licht. Dela und Lise schlurften zur Treppe und blieben wie erstarrt stehen, als die erste Stufe knarrte. Sie hielten den Atem an, aber im Geschoss über ihnen regte sich nichts.
Daraufhin gingen sie weiter die Treppe hinauf. Dela versuchte, ihre Fassung zu bewahren, und unterdrückte die Schmerzen. Sie biss sich so fest auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte.
Lise stieß die Tür zum Erdgeschoss auf. Einen Augenblick lang warteten sie atemlos, mit heftig pochenden Herzen. Dela nahm an, dass ihr der Magier jeden Moment den Türknauf aus der Hand reißen und sie die Treppe hinabstoßen würde. Doch das einzige Geräusch, das sie hörte, war das ständige Tröpfeln von Wasser. Lise spähte um die Ecke und half dann Dela durch die Tür. Die silbernen Kugeln erloschen.
Die Küche wirkte alt und mitgenommen, das Linoleum fleckig und gerissen. Die Farbe blätterte in breiten Streifen von den Wänden, und der Ofen sah aus, als hätten Generationen von Spaghetti-Soßen darauf gelebt und gebrannt. Dela roch den Duft von Räucherkerzen.
Die Hintertür war nur anderthalb Meter von ihnen entfernt, und zum ersten Mal empfand Dela wirklich Angst. Der alte Spruch: So nah und doch so fern hatte nie so viel Bedeutung für sie gehabt wie in diesem Augenblick. Sie konnte die Freiheit fast schmecken, aber wenn der Magier sie jetzt erwischte...
Dein Leben ist ein Filmthriller, dachte Dela, als sie durch die Küche zur Tür schlich. Und jetzt kommt die Schlussszene.
Wie durch ein Wunder schwang die Tür ohne jedes Drama nach außen auf, doch kein Alarm heulte, um ihre Flucht zu verraten. Es war Nacht geworden, aber Dela sah den Wald, der sich dunkel hinter dem ungepflegten Rasen erstreckte.
»Lauf!«, befahl Dela Lise und versuchte, das Mädchen vorwärtszuschieben. »Ich halte dich nur auf.«
»Nein, zum Teufel.«
»Lise!«
»Ich lasse Sie nicht allein!«
»Vergiss den Edelmut, Kind. Er hat dich aus einem bestimmten Grund hierher geschafft, und wenn du fort bist, hat er verloren. Und jetzt lauf!«
Lise zögerte, aber Dela versetzte ihr wieder einen Stoß. Die dunklen Augen des Mädchens leuchteten entschlossen. »Ich hole Hilfe«, erklärte es, und Dela wusste, dass es es ernst meinte.
Lise rannte los, in Richtung Wald, schnell wie ein Windhund. Dela humpelte so rasch sie konnte hinter ihr her, aber allein das Gehen fiel ihr schon schwer. Sich aufs Gras zu legen und in einer Ohnmacht zu versinken wäre mehr nach ihrem Geschmack gewesen.
Plötzlich richteten sich die Haare in ihrem Nacken auf: eine Warnung.
Am Rand des Waldes schrie Lise auf, und Dela stieß im nächsten Augenblick gegen eine unsichtbare Barriere. Der unerwartete Aufprall schleuderte sie zu Boden. Sie schrie gequält auf und hielt sich ihre schmerzenden Rippen. Sterne tanzten vor ihren Augen, und sie fürchtete, dass sie ihr Bewusstsein verlor. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Schatten wahr, der aus dem Haus kam und auf sie zulief.
Ein Brüllen zerriss die Nacht, ein wildes, wütendes Brüllen. Dela versuchte aufzustehen, aber ein Stiefel krachte gegen ihre Seite. Vor Schmerzen wäre sie fast ohnmächtig geworden.
»Hari!«, kreischte der Magier. Mit wild aufgerissenen Augen sah er sich suchend um. »Es wird Zeit!«
Dela hörte jemanden weinen: Lise. Sie verdrehte die Augen und sah, wie das Mädchen verzweifelt gegen die Luft zu hämmern schien.
In diesem Augenblick glitt ein gewaltiges Geschöpf mit geschmeidiger Anmut zwischen den Bäumen hervor. Lise hörte auf, gegen die unsichtbare Barriere zu schlagen und trat zurück, als ein Tiger lautlos wie der Tod durch die unsichtbare Wand glitt. Seine goldenen Augen brannten wie Feuer.
Der Magier verstummte und stand vollkommen reglos da, während er dem Tiger in die Augen
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