Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Zeit darauf verwandt, mir klarzumachen, dass er mich auf gar keinen Fall so akzeptieren würde, wie ich war, und jetzt wollte er mir auch noch den einzigen Menschen nehmen, der das tat. »Nein, Poppa, damit höre ich nicht auf. Dazu kannst du mich nicht zwingen. Du hast jetzt keinen Grund mehr, das von mir zu verlangen.«
26
Die Frau im Baum
In jenem Herbst begann ich, Bands wie Hole und Veruca Salt zu hören und legte dunkelroten Lippenstift auf, wie ihn Courtney Love und Louise Post trugen. Und ich war wie besessen von dem umwerfenden blonden, vergrübelten, ewig siebenundzwanzigjährigen Rockstar Kurt Cobain, der sich im April mit einem Kopfschuss getötet hatte. Peter hatte einmal bemerkt, wie jung Kurt bei seinem Tod gewesen sei, und ich erwiderte mit einem Grinsen, dass ich ihn bewunderte, es in dieser beschissenen Welt überhaupt bis siebenundzwanzig ausgehalten zu haben. Sein Selbstwertgefühl mochte noch geringer als meins gewesen sein – in seinen Texten ging es um das Gefühl von Wertlosigkeit, von Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft. Wenn wir mit dem Auto bei Peter aufbrachen, liefen meine ganzen Nirvana -Alben durch, obwohl Peter einige Lieder beunruhigend fand. Wenn ich auf der vierzig Kilometer langen Fahrt mit Peter und Paws nach Palisades Park die Stücke meiner neuen Idole mitsang, war ich so selig wie damals, wenn ich über »Die Geschichte« reden konnte.
Von dem Mann, der das Overlook Lodge führte, einen Erfrischungskiosk, der gegrillte Hamburger, überteuerte Chips und Biskuits für die zahlreichen von den Besuchern mitgeführten Hunde verkaufte, erfuhren Peter und ich so einiges über die verstörende Vergangenheit von Palisades Park. Glaubte man ihm, dann war wegen der hohen Felsen über dem Hudson River hier Selbstmord an der Tagesordnung. Die unheimlichste Geschichte handelte von einer kleinen dünnen Frau, die von einer Klippe gesprungen war und wohl mit dem unmittelbaren Tod durch den Aufprall auf die großen Steine am Flussufer gerechnet hatte. Doch im Fallen war die Frau von den Ästen eines Baumes aufgefangen worden, in dem sie stundenlang hängen blieb und unter den Schmerzen ihrer gebrochenen Knochen litt, bis sie schließlich dort jämmerlich starb. Der Baum hatte sie nur halten können, weil sie so zierlich war, wegen ihres geringen Gewichts waren die Äste nicht abgebrochen.
Da es Herbst war, hielten wir Ausschau nach Breitflügelbussarden und Fischadlern mit ihren erkennbar M-förmigen Schwingen. Im Sommer hatte ich inmitten von flatternden Schwalbenschwanz-Schmetterlingen wilde Himbeeren gepflückt; mit einem Schlüssel hatte ich »Peter und Margaux ’95« in eine Picknickbank geritzt. Wir hatten verborgene Bachläufe entdeckt und Steine für Wicca-Zauber gesammelt.
Hier gefiel es mir. Im Park hatte ich das Gefühl, auf einem Schiff zu sein, das immer weiter von der Wirklichkeit forttrieb; inzwischen hatte ich zu so gut wie niemandem mehr Kontakt außer zu Peter und Paws. Der Unterricht zu Hause hatte mir viel Spaß gemacht, doch da ich jetzt sechzehn war, alt genug, um die Schule offiziell zu verlassen, hatte die Verwaltung dem Unterricht ein Ende gemacht. Ich lernte für die Prüfung zur Hochschulreife und bestand sie im November, hatte aber keine Vorstellung, was ich damit anfangen sollte. Mir fehlten meine Lehrer, besonders Mr. und Mrs. Bernstein, auch wenn ich mir einredete, es sei mir egal. Wie ein Matrose mitten auf dem Meer oder ein Astronaut auf dem Mond tat ich mein Bestes, mich von den Inseln der Schrecken fernzuhalten – Poppas Haus in Union City, die Psychiatrie, die Streitigkeiten mit Peter, die grässlichen Schulen. Hier in Palisades Park war ich frei von alledem. Nur selten sah ich andere Jugendliche, so dass ich nicht daran erinnert wurde, welche Partys, Verabredungen und Discoabende ich verpasste.
***
Ich wusste, dass meine neue Schwärmerei für Kurt Cobain Peter eifersüchtig machte, und war deshalb überrascht, als er mit einer Musikzeitschrift in der Hand aus Barnes & Noble kam und mich bat, ihm den Beitrag über Nirvana vorzulesen. Eines Tages pinnte er sogar ein Schwarzweiß-Poster des strahlenden Kurt an seine Wand.
»Ta-da!«, rief er, als er die Hände von meinen Augen nahm. »Weißt du noch, dass diese Sozialarbeiterin meinte, ich hätte keine Jungs an der Wand? So, jetzt ist einer da, mein Liebes, nur für dich!«
Auch wenn es Peter vielleicht nicht bewusst war, unterstrich das neue Poster, wie veraltet alles andere in seinem Zimmer
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