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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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aus; mal war sie mit Carlos in der Dusche, und er wusch ihr die Haare; mal fuhr sie in ihrem Cabrio, mal ritt sie auf ihrem Pferd, einem wunderschönen muskulösen Palomino. Und dann wurde sie vom Mensch zum Tier: Das schimmernde Fell brach wie Feuer aus ihren Poren, ihre Augenfarbe wechselte von Braun zu Grün, ihr Kleid platzte auf. Wenn sie ein Tiger war, kettete Peter sie im Keller an, damit sie niemanden totbiss. Er brachte ihr Fleisch und Wasser und massierte ihren Bauch, damit sie wieder in die Menschengestalt zurückkehrte.
    An Freitag- und Samstagabenden unterhielten wir uns oft von neun Uhr abends bis zwei Uhr nachts über »Die Geschichte«, während meine Mutter Radio oder Schallplatten hörte. Wenn ich in meiner Fantasiewelt war, wurde ich nicht müde, bekam weder Hunger noch Durst, nahm nichts um mich herum wahr, sondern sah nur die Bilder in meinem Kopf. Ich hörte nichts anderes als die Stimmen von Peter und mir. Obwohl ich so gerne mit Peter telefonierte, reagierte ich seltsam, als ich mit meiner Mutter im Hudson Park zufällig auf Peter, Inès und die Jungen traf. Mit breitem Lachen winkte Peter mir zu, doch kaum hatte er das getan, lief ich davon. Als wir das nächste Mal telefonierten, fragte er mich nach dem Grund, und weil ich mein Verhalten nicht erklären konnte, sagte ich, sein Anblick hätte mich daran erinnert, dass ich ihn nicht mehr zu Hause besuchen durfte.
    ***
    Eines Nachts hörte ich während eines Langzeittelefonats auf einmal Kichern im Hintergrund.
    »Wer war das?«, fragte ich, nicht gerade begeistert, dass »Die Geschichte« unterbrochen wurde.
    »Jenny und Renee. Ach, habe ich dir noch nicht von ihnen erzählt? Sie sind Pflegekinder. Sie sind gekommen, als Karen weggeholt wurde.«
    »Wer hat Karen geholt?«, fragte ich.
    »Ihre Mutter. Karen wollte nicht zurück zu ihr. Wollen die Kinder nie. Sie klammerte sich an mein Hemd, als ginge es um ihr Leben. Die Sozialarbeiterin musste ihre Finger einzeln lösen.«
    »Oh.« Die Geschichte machte mich traurig.
    »Willst du Renee begrüßen? Sie ist nur ein Jahr älter als du.«
    Eigentlich wollte ich nicht, doch er gab ihr trotzdem den Hörer. Sie war ein albernes, unbesonnenes Mädchen mit einem nasalen Lachen. Sie erzählte, sie würde Plastiktrolle sammeln. Die fand ich hässlich, doch ich tat so, als würde ich sie mögen. Ich hörte, dass sie Peter »Dad« nannte. Sie schien ihn ebenso zu lieben wie ich, wie Karen. Noch ein zweites Mal sprach ich am Telefon mit Renee, bis Peter irgendwann sagte, Renee und Jenny seien zu ihren Müttern zurückgekehrt, genau wie Karen. Er sagte auch, es würde langsam zu traurig, neue Kinder aufzunehmen, er würde das nicht mehr machen.
    ***
    Einmal während unserer Trennung machte ich den Fehler, Peter anzurufen, obwohl Poppa noch im Hause war. Ich hörte, wie er unten ans Telefon ging, auf mehrere Tasten drückte, dann so tat, als würde er auflegen, und stattdessen lauschte. Ich beendete schnell das Gespräch und hörte Geschrei von unten, doch Poppa sprach mich nie darauf an.

Zweiter Teil

14
    Das Wiedersehen
    Winnie hielt ihre Freundschaft mit mir bis zum Ende der fünften Klasse geheim, als es mir gelang, mich auch mit Irene Palozzi anzufreunden. Irene hatte mich irgendwann beim Turnen gehänselt, und zu ihrer Überraschung wehrte ich mich. Ich konnte mich nicht mal daran erinnern, doch es erwies sich als glückliche Fügung, da sie dadurch meine Freundin wurde und Winnie sich mit mir in der Öffentlichkeit sehen lassen konnte. Von da an wurde Irene, die löwenmähnige, großmäulige Tochter eines Polizisten aus Union City, meine Beschützerin. Sie drohte sogar einem beliebten Jungen Prügel an, der behauptet hatte, ich hätte Läuse. Zu Beginn der sechsten Klasse kam zu unserem Trio ein viertes Mädchen hinzu: Grace Sanchez. Grace war so schön wie das Titelmädchen einer Jugendzeitschrift, aber viel zu schüchtern, um von den vier beliebtesten Mädchen der Klasse für voll genommen zu werden, die sie anfangs in ihre Clique hatten aufnehmen wollen. Grace gestand, die »angesagten« Mädchen hätten sie so eingeschüchtert, dass sie an deren Tisch beim Mittagessen kein einziges Wort herausbekam, das jemand anders hätte hören können. Irene ermutigte Grace immer wieder, laut zu sprechen, und in der Pause machte sie sich gerne mit allem an mir zu schaffen, was ihre Tasche so hergab: Rouge, Lippenstift, Lidschatten und die Haarspray-Dose in Reisegröße. Unser Musiklehrer Mr. Conroy, ein

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