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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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die großen Künstler interpretieren sie, sie inspiriert die Komponisten, aber in Wirklichkeit existiert sie gar nicht.« Poppa nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. »Als ob du denkst, du hast ein Geschwür, aber wenn der Chirurg dich aufschneidet, kann er nichts finden. Es ist eine chemische Reaktion, Keesy. Hormone. Die Menschen sterben dafür, aber ihre Existenz ist nie bewiesen worden.«
    Ich trank den Rest der Cola und entschuldigte mich dann, ich müsse auf die Toilette. Kaum war ich dort, sackte ich auf die Knie, auf den schäbigen Boden, der voller Toilettenpapier war. Ich beugte mich über die kleine Schüssel mit den braunen Flecken an den Rändern und erbrach mich, bis nichts mehr übrig war.

13
    Unser kleines Geheimnis
    Peter schickte mir eine Osterkarte, und Mommy, kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen, sagte, ich solle ihn anrufen und mich bei ihm bedanken. Fast ein Jahr war vergangen, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Als wir miteinander telefonierten, machte er mir so viele Komplimente und erzählte so viele lustige Witze, dass ich nach dem Auflegen strahlte. Nach diesem ersten Gespräch sagte Mommy: »Ich wusste , dass dein Vater unrecht hatte. Wie soll ein böser Mensch so eine nette Karte schreiben?« Sie überlegte. »Dein Vater hat eine gestörte Impulskontrolle, sagt Dr. Gurney, aber pass mal auf! Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Die halbe Zeit ist er eh nicht zu Hause.« Kichernd wie Schwestern überlegten wir uns, wie genau wir Poppa austricksen wollten. Ich würde Peter anrufen, wenn Poppa in der Bar war. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr fühlte ich mich meiner Mutter wieder nahe. Wir hatten jetzt ein Geheimnis, das nur uns gehörte, von dem Poppa nichts wusste.
    Das erste Zeichen dafür, dass Poppa ausging, war der Geruch seines Rasierwassers, der sich schlagartig im Haus verteilte. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe, wenn er hoch und runter eilte, er ging ständig ins Elternschlafzimmer, zu seinem Schrank, und oft hörte ich ihn auf Spanisch singen. Poppa stellte seinen Hemdkragen auf und fuhr mehrmals über die kleinste Falte im Stoff. Er hasste Falten; all seine Sachen gab er regelmäßig in die Reinigung und ließ sie so lange unter der Plastikfolie, bis er sie wieder anzog. Er polierte seine Schuhe noch immer mit schwarzer Schuhcreme und malte sein einziges Paar Converse -Turnschuhe alle paar Jahre wieder weiß an.
    Dann suchte er seine Ringe zusammen und schob sie sich ohne das leiseste Geräusch auf die Finger – wenn einer nicht genug funkelte, bereitete er eine Lösung vor, in die er den Ring tauchte, um ihn dann mit einer Goldschmiedebürste zu säubern –, und schließlich holte er sein goldenes Kreuz hervor, dessen Glanz er im hellen Licht prüfte. Erst wenn Poppa gegangen und das Tor hinter ihm ins Schloss gefallen war, konnte ich Peter ohne Gefahr anrufen. Wenn der Anrufbeantworter nach dem obligatorischen fünften Klingeln ansprang, versuchte ich es einfach erneut und legte auf, falls sich wieder der AB meldete. Ich nahm an, meine ständigen Anrufe würden niemanden stören, denn wenn Inès oder die Jungen drangingen, waren sie immer freundlich.
    ***
    In jenem Schuljahr, der fünften Klasse, freundete ich mich mit einer Dominikanerin an, Winnie Hernandez. Die anderen machten sich manchmal über Winnie lustig, weil sie gerne las und ihre Haut angeblich zu dunkel war – so wie man die blonde Barbara Howard zu blass fand. Außerdem war Winnie ein bisschen verträumt, genau wie ich. Sie hatte die Angewohnheit, während der kleinen Pause um eine blaue Stange herumzulaufen; eines Tages machte ich es ihr nach, und es entwickelte sich ein Spiel daraus. Eine Woche später sagte Stacy Gomez nach der Musikstunde spitz zu mir: »Winnie sagt, du sollst aufhören, ihr nachzulaufen.« Am nächsten Tag starrte ich unglücklich auf die Stange. Winnie machte mir ein Zeichen, zu ihr zu kommen, und Stacy sagte zu ihr: »Spiel nicht mit der. Willst du so wie die werden?«
    Einige Wochen später ließ Winnie einen Zettel für mich auf den Boden fallen. Darauf stand: »Wollen wir uns morgen beim Kuchenbasar hinter der Bühne in der Aula treffen?« Ich ging hin, und wir unterhielten uns lange. Sie sagte, sie hätte gehört, wie Carlos Cruz, der süßeste Junge in unserer Klasse, sagte: »He, Margaux ist nicht hässlich. Sie ist nur komisch.« Winnie erzählte mir: »Ich kann deine Freundin sein, aber man darf uns nicht zusammen sehen. Du darfst nicht beim

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