Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Mittagessen neben mir sitzen oder mit mir reden, wenn andere in der Nähe sind.« Ich nahm die Bedingungen an, und wie mit Peter führte ich eine Telefonfreundschaft mit ihr. Über unser neues schnurloses Telefon vertraute ich Winnie an, dass sich ein erwachsener Mann in mich verliebt und mich zur Frau gemacht hatte.
»Erzähl das keinem! Er liebt mich immer noch, und wir telefonieren, wenn mein Vater nicht da ist.«
Winnie verstand nicht so recht. »Ein erwachsener Mann kann nicht dein Freund sein. Das ist verboten.«
»Er findet Verbote dumm. Er ist ein Rebell.«
»Ah. Na ja. Magst du Carlos trotzdem?« Jedes Mädchen war in Carlos verliebt.
»Ich hab doch gerade … Eigentlich nicht. Carlos ist …« Ich schämte mich.
Winnie schien zu verstehen. »Er kann ja dein heimlicher Freund sein. Du kannst ihm ja sagen, du würdest ihm seine Eier blasen.« Sie kicherte und konnte nicht mehr aufhören. Sie hatte »Penis« gemeint, aber »Eier« gesagt.
Winnie begann mit ihrem üblichen Vortrag: »Du bist hübsch, du musst dich einfach nur mehr anstrengen. Du machst Sachen, die deinen Ruf schädigen.« Alles, was man machte und sagte, mit wem man Mittag aß und wie man sein Haar trug, bildete in der Holy-Cross-Schule die Grundlage für den eigenen Ruf. »Weißt du, was die Mädchen über dich sagen?«
»Was denn?«
»Dass du letztens mit weit gespreizten Beinen in der Klasse gesessen hättest, als wolltest du vor den Jungen angeben. Warum machst du so was?«, fragte sie.
»Ich erinnere mich nicht mehr«, sagte ich, und mein Magen rutschte mir in die Kniekehlen. »Ich kann mich nicht immer daran erinnern, was ich tue.«
Winnie seufzte. Es klang traurig, als sie sagte: »Aber genau deshalb sagen ja alle, dass du verrückt bist.«
***
Wenn Peter und ich telefonierten, unterhielten wir uns jedes Mal über »Die Geschichte«. Sie handelte von einer Fantasiewelt mit Menschen, die sich in Tiger verwandeln. Obwohl ich inzwischen älter war, drehten sich meine Fantasien um Tiger. Die Hauptfigur hieß Margaux. Ursprünglich war sie kein Tigermensch gewesen; sie war ein ganz normales glückliches Mädchen gewesen, das in den Besitzer einer Zoohandlung verliebt war, Peter. Doch dann lernte sie einen gutaussehenden Rockstar kennen, Carlos, einen Tigermenschen, mit dem sie ins Bett ging. Dadurch ging der Werkatzenfluch auf sie über, so dass Margaux sich ebenfalls in einen Tiger verwandelte. Sie bekam von Carlos eine Werkatzentochter, Desiree. Margaux heiratete Carlos, und sie wohnten in einem Stadthaus in Connecticut. Peter ertrug es nicht, von Margaux getrennt zu sein, deshalb stellte sie ihn als Babysitter für Desiree an, und er zog zu ihr und Carlos ins Haus. Carlos und Peter freundeten sich an, obwohl sie beide Margaux liebten. Peter war viel schlauer als Carlos, und er war kein Tigermensch, deshalb kümmerte er sich um alle. In Teilen war »Die Geschichte« beeinflusst von meiner lebhaften Erinnerung an den blutigen Horrorfilm Katzenmenschen aus dem Jahr 1982, den ich fünfjährig mit Poppa gesehen hatte.
Sobald ich in »Die Geschichte« eintauchte, verschwand die Margaux aus der fünften Klasse, das Mädchen mit den Pickeln und dem braunen Bubikopf, den schwarzen Augen und den blauen Flecken an den Knien von meinen Versuchen, wie eine Katze zu springen, es verschwand die Margaux, die zu keiner Party eingeladen wurde, die bei niemandem übernachtete, in die kein Junge verliebt war. Das Einzige, was noch mit dieser Margaux zu tun hatte, war ihr Name. Die Margaux in »Die Geschichte« war zwanzig Jahre alt und reich vom Verkauf ihrer Romane, sie war mit einem Rockstar verheiratet und hatte zusätzlich einen Mann, der sie so sehr liebte, dass es ihn nicht mal störte, sie mit einem anderen verheiratet zu wissen. Er konnte nicht anders, als sie zu lieben, weil sie so schön war. Ich sah diese Margaux deutlich vor mir: Sie sah aus wie Cindy Crawford. In »Die Geschichte« stand sie vor dem Ösenvorhang in der Küche und beobachtete, wie Peter Spiegeleier briet, während die kleine Desiree in ihrem Hochstuhl vor sich hin gluckste. Margaux hatte langes Haar mit blonden Strähnen, das sie zu einer Banane hochgesteckt hatte (das ging ganz einfach mit einem Band), ihre Arme und Beine waren völlig frei von Haaren, sie trug ein Samtband um den Hals. Hin und wieder arbeitete sie als Model, dann musste sie direkt nach dem Frühstück zum Fotoshooting. Mal stand sie in ihrem Schlafzimmer und zog sich vor ihrem mannsgroßen Spiegel
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