Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Leute über mich denken müssen! Ich schäme mich. Die Leute auf der Straße, wer weiß, welchen Müll sie denen erzählt? Jeder sieht auf den ersten Blick, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung ist, aber trotzdem … Trotzdem … ich schäme mich. Ich glaube, es ist an uns, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen. Gemeinsame Anstrengungen, damit sie nicht zusammenbricht. Jeden Tag sage ich ihr, dass sie krank wird; sie behauptet, sie hätte sich noch nie besser gefühlt. Sie ist unmöglich zu mir, dabei versuche ich doch nur, ihr zu helfen. Ich bin der Einzige, der sich um sie kümmert. Wir sind alles, was sie hat. Morgen rufe ich Gurney an und erzähle ihm, dass sie wieder die Symptome hat. Beim letzten Mal hat er ihre Thorazine-Dosis erhöht. Ich glaube, es ist Zeit, dass er sie noch mal erhöht, und das Seroquel auch. Sonst läuft sie irgendwann durch die Stadt, gefährdet dein Leben und macht mich zur Zielscheibe des Spotts.«
»Sie muss aber nicht ins Krankenhaus, oder?«
Poppas Bein wippte auf und ab. Es machte mich so nervös, dass ich seinen Hausschuh am liebsten auf dem Boden festgenagelt hätte. »Vielleicht ja, vielleicht nein, aber nicht, wenn wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Und das werden wir in den nächsten Wochen. Ich glaube, dass der Blutzucker deiner Mutter aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich glaube, dass sie sich nicht richtig ernährt. Ich möchte, dass du und sie in nächster Zeit um halb sechs zu Hause seid, bevor ich heimkomme. Wenn ich da bin, werde ich für euch beide kochen. So kann sich ihr Blutzucker stabilisieren, und ich kann mich vergewissern, dass sie ihre Medikamente zum Essen einnimmt. Ich kann ihr Verhalten beobachten und Gurney Bericht erstatten. Außerdem werden die Tage langsam kürzer. Es ist nicht gut, wenn sie krank ist und mit dir im Dunkeln herumläuft. Ihr könntet beide überfahren werden!«
Fast hätte ich gesagt, dass Peter uns immer nach Hause brachte, doch ich verkniff es mir. Ich wusste, dass ich am besten einfach gehorchte. Allein die Vorstellung, weniger Zeit mit Peter zu haben und mir Poppas Tiraden beim Essen anhören zu müssen, verursachte mir Übelkeit. Er sah, dass ich den Kopf hängen ließ, und hob mein Kinn an.
»Deine Haut … Ich glaube, auf deiner linken Wange bildet sich ein Pickel. Ich kann die Lupe holen …«
»Nein. Ich meine: nein, danke. Ich bin jetzt wirklich müde.«
Er nickte, und ich ging. Ich spürte, dass er mir nachsah, und drehte mich um. Er schaute mich mit einem seltsamen Ausdruck an.
»Du wirst größer. Ist mir gerade erst aufgefallen.« Schnell wandte er sich ab.
***
»Er ist da drin, und er hat Waffen!«
Meine Mutter sagte das nicht leise vor sich hin. Sie stand mitten auf der Straße vor unserem beige-roten Haus und schrie es.
»Mommy«, sagte ich. »Poppa ist noch nicht von der Arbeit zurück. Er ist gar nicht da. Komm, wir gehen einfach zurück zu Peter. Wenn wir laufen, können wir ihn sogar noch mit Paws erwischen. Komm, wir gehen zurück!«
»Er will, dass wir zu Hause sind, vergessen? Zum Essen müssen wir zu Hause sein. Damit er rumschreien und lästern kann und sich über meine Schwester und das Geschirr beschweren kann und dass ich eine kranke Frau bin und dass er eine so große Last trägt. Ich weiß, dass dieser Mann da drin ist. Er nennt mich diese Frau ! Tja, dann nenne ich ihn eben diesen Mann ! Dieser Mann! Dieser Mann! Dieser Mann!«
»Poppa ist nicht zu Hause, Mommy«, sagte ich. »Im ganzen Haus ist es dunkel. Er ist in der Bar.«
Sie ignorierte mich. Ihr Gesicht leuchtete, als hätte sie eine religiöse Erscheinung. Sie fing wieder an zu schreien, und ich schob mir mein langes Haar ins Gesicht, damit mich niemand erkannte. In Union City fanden sich Schaulustige ein, sobald es eine Schlägerei, einen Brand oder etwas anderes Außergewöhnliches gab. Ältere Damen mit Rouge auf den Wangen, Mütter mit Kinderwagen, alte Kubaner mit Hüten, Jugendliche mit Durags, Metallketten um den Hals und Sportjacken von Nike und Adidas – sie alle begafften uns.
»Hört alle her! Mein Mann ist verrückt! Er hat Waffen im Haus! Er will mich umbringen! Er ist ein Säufer! Er versteckt sich im Haus, will nicht gesehen werden! Mit seinen Waffen versteckt er sich da drin! Wenn wir reingehen, bringt er uns um!« Die Stimme meiner Mutter klang, als käme sie aus einem Lautsprecher über uns, und die Leute sammelten sich wie kanadische Wildgänse zu ihrer Unheil verkündenden V-Formation. »Rufen Sie bitte die
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