Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Pflegefamilien, im Internat. Eine kurze Zeit habe ich bei meiner Mutter gelebt. Bei ihr musste ich zur Strafe die ganze Nacht stehen bleiben. Ich war so müde, dass ich zu Boden sackte und einschlief. Weißt du, wofür sie mich bestrafte? Weil ich im Schlaf lachte. Sie musste am nächsten Morgen zur Arbeit, deshalb brauchte sie ihre Ruhe. Es war wahrscheinlich die einzige Gelegenheit zu lachen, die ich hatte.«
Ich drückte Peters Hand; es tat mir leid, dass er so ein tragisches Leben gehabt hatte. Niemand hatte ihn geliebt, er war ganz auf sich allein gestellt gewesen. Er fuhr fort: »Als ich dreizehn und mein Bruder sechzehn war, klaute er eine Pistole, mit der wir unseren Vater in seinem Hotelzimmer im Schlaf umbringen wollten. Doch er hatte schon ganz früh ausgecheckt.«
»Glaubst du, ihr hättet es getan?«
Peter nickte. »Mein Bruder hätte als Erstes geschossen, dann ich, eine Kugel nach der anderen. Ich fand, dass er es verdient hatte. Weißt du, er hat uns nicht einmal einen Penny hinterlassen, als er gestorben ist! Vermachte alles den Söhnen aus zweiter Ehe.« Er schüttelte den Kopf. »Aber er hatte nicht nur schlechte Seiten. Als ich älter war, so elf oder zwölf, ging er ein paar Mal mit mir im See schwimmen. Das war schön. Außerdem gab er mir immer Kleingeld, ganze Berge von Münzen. Tja, manchmal fielen sie durch, manchmal nicht. War alles Falschgeld.« Peter warf einen Stein in den Wasserfall.
***
Am Wasserfall erfuhr ich, dass Peters zweite Frau eine dunkelhäutige Ecuadorianerin gewesen war. Als sie durch die besonders rassistischen Gegenden im Süden fuhren, vermietete man ihnen nirgends ein Zimmer. Deshalb mussten sie sich im Auto lieben. Peter sagte, er und seine zweite Frau hätten vier Töchter gehabt. Sie hatten katholische Empfängnisverhütung praktiziert, den Coitus interruptus. Ich fragte Peter, ob er noch Kontakt zu seinen Kindern habe, und er meinte, sie lebten alle weit weg. Er würde ihnen jedes Jahr Weihnachtskarten schicken, aber es kämen nur selten welche zurück, und das täte ihm weh. Dann erzählte er von all den Gelegenheitsjobs, die er gehabt hatte. An der Art, wie er den Mund verzog, merkte ich, dass seine Kinder ein wunder Punkt waren.
Um seine große Familie ernähren zu können, arbeitete er als Wagenmeister, als Taxifahrer in New York und schließlich als Fensterputzer. Seine Karriere als Schlosser fing erst viel später an, nachdem er von seiner zweiten Frau geschieden worden war. Doch er war daran gewöhnt, sich neu zu orientieren, Neues auszuprobieren. Schon als Kind hatte er sein eigenes Geld verdienen müssen; als er aus dem Jungeninternat ausriss (sechs Mal!), arbeitete er als Schuhputzer an Straßenecken, und als er sich mit lediglich einem Vierteldollar in der Tasche auf eine Reise quer durchs Land machte, wusch er Geschirr. Bevor Peter seine zweite Frau kennenlernte, hatte er sogar kurze Zeit als Stricher in San Francisco gearbeitet, wo er von Männern Geld dafür bekam, dass sie ihm einen blasen durften. Die beste Stelle, die er je gehabt hatte, war eine kurzzeitige Beschäftigung als Tanzlehrer, und der bei weitem schlechteste Job war das Fensterputzen. »Ich musste an riesigen Gebäuden hochklettern und war nur über diesen dürftigen Gurt abgesichert«, sagte er, als wir händchenhaltend am Wasserfall saßen. »Ich war hundemüde, weil ich mich mit meiner Frau nachts abwechselnd um unsere erste Tochter kümmerte, die Koliken hatte. Oh, wie sie schrie und brüllte! Und damals war das alles noch nicht so einfach. Es gab keine Einwegwindeln, man musste die Windeln mit der Hand waschen. Ich hatte vier Kinder, und die ganzen Jahre saß ich in einem Job fest, den ich hasste, weil ich alle versorgen und sicherstellen musste, dass sie zum College gehen konnten. Mann, wie ich die Arbeit gehasst habe! Um fünf Uhr musste ich mich anziehen, um pünktlich da zu sein. Jede einzelne Sekunde hatte ich Angst. Man lernt, dass man niemals nach unten schauen darf. Einmal habe ich’s doch getan, und die ganze Welt fing an zu schwanken. Es war, als würde ein böses Kind einen ganzen Ameisenhaufen umwerfen, und ich war eine kleine Ameise tief unten drin.« Peter seufzte und zündete sich eine Zigarette an.
»Egal, als ich um die zehn Jahre alt war, wettete mein Bruder einmal mit mir, ich würde nicht an einer Steinmauer hochklettern, die ungefähr so hoch wie der Wasserturm von Pathmark war und genauso steil. Ich wollte ihn beeindrucken und ließ mich darauf ein. Was
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