Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
Vom Netzwerk:
das Problem war? Ich schaute nach unten. In dem Moment erstarrte ich, mitten an der Mauer. Ich war wie gelähmt, so als würde die Zeit stillstehen. Mein Bruder musste mich lange bequatschen: Mach weiter, guck nicht runter! «
    Geschichten aus Peters Leben zu hören machte mich nach einer Weile fertig, und ich wollte einfach wieder Spaß haben. Deshalb sagte ich: »Peter, ich möchte gerne den Wasserfall hochklettern. Jetzt sofort. Um dir zu zeigen, dass ich vor gar nichts Angst habe.«
    »Für mich musst du nicht hochklettern, nur wenn du selbst wirklich willst. Mich musst du nicht beeindrucken.«
    »Hm, vielleicht ist es doch keine so gute Idee«, sagte ich mit Blick auf den Wasserfall. »Ich habe keinen Badeanzug an. Ich werde klatschnass.«
    »Dann kletter nackt hoch«, sagte Peter schmunzelnd. »Das traust du dich nicht!«
    »Und ob!«, gab ich zurück und zog mich aus.
    »Das war nur ein Witz! Margaux, lass das!«
    Aber es war bereits zu spät. Ich war wild entschlossen, Peter zu zeigen, wie mutig ich war. Peter sagte immer wieder, der Wasserfall sei zu nah an der Straße, man könne mich aus den vorbeifahrenden Autos sehen; meine Nacktheit könne einen schlimmen Unfall verursachen. Es störte mich nicht. Nackt wie ein Grashüpfer begann ich, den kleinen Wasserfall hochzuklettern, zog mich an Vorsprüngen hoch und setzte die Füße auf Steinen ab. Das plätschernde Wasser war eiskalt, die Steine waren glitschig und moosig unter meinen nackten Füßen und Händen. Ich mochte das Gefühl des Mooses und auch das des kalten Wassers; doch mehr als alles andere gefiel mir das Wissen, dass Peter mir von unten zusah.
    »Hey, Peter!«, rief ich durch die zum Trichter geformten Hände, als ich oben angekommen war. »Guck mal zu mir hoch!«
    ***
    Ich war so stolz, den Wasserfall erobert zu haben, dass ich, als wir in der frühen Dämmerung zu Peter zurückkehrten, um noch mit Paws rauszugehen, vom Motorrad sprang und nicht an den heißen Motor dachte, vor dem Peter mich immer gewarnt hatte, wenn ich Shorts trug. Ich verbrannte mir den Knöchel.
    Peter half mir, hoch zu seinem Zimmer zu humpeln, wo ich mich mit ausgestrecktem Bein aufs Bett legte. Die Verbrennung war zu einer großen Blase angeschwollen. Peter holte einen Plastikbecher und eine Rolle Tesafilm aus der Küche. »Die Blase schützt das rohe Fleisch darunter. Ich klebe diesen Becher darauf, damit sie nicht aufplatzt.«
    Ich nickte und zuckte zusammen, als Peter den Becher mit Klebeband befestigte.
    »Und jetzt?«, fragte ich.
    »Jetzt gehe ich los und hole ein antiseptisches Spray«, sagte Peter. »Das unterstützt den Heilungsprozess und lindert die Schmerzen. Sei so lange vorsichtig, damit du nicht aus Versehen an die Blase kommst.«
    Als Peter zurückkehrte, löste er den Klebefilm und hob den Becher an. Die Verbrennung sah schlimm aus, die Blase war noch größer geworden und nässte inzwischen.
    »So was hat jeder mal. Jeder, der Motorrad fährt«, sagte Peter und sprühte Lidocain auf die Brandwunde. Ricky kam herein und sah zu, was ungewöhnlich für ihn war. Er war jetzt sechzehn, hatte sich vor kurzem den Kopf kahlrasiert und trug einen Ring in der Augenbraue. Ricky und Miguel verständigten sich mit Peter nur noch mittels Grunzlauten, aber wir sahen sie eh nur selten. Die Jungs waren so in ihr eigenes Leben vertieft, dass sie meine Existenz außer mit einem gelegentlichen »Hallo«, wenn sie mich allein antrafen, kaum zur Kenntnis nahmen.
    »Meinst du, das gibt eine Narbe?«, fragte ich Ricky.
    Er zuckte mit den Schultern. »Kann gut sein.«
    »Hast du auch eine?«
    Er hob das Bein seiner karierten Hose an und schnürte seinen Doc Martens auf. »Jep. Schau?« Er wies auf einen runden Fleck, der weißer war als die übrige Haut an seinem Knöchel. »Jetzt hast du ein Brandzeichen. Wie ich.«
    »Cool«, sagte ich.
    Peter warf ein: »Ricky ist früher ständig mit mir gefahren, nicht, Ricky?«
    Ricky grunzte.
    »Früher, als er kleiner war, hat sein Mund nicht stillgestanden. Jetzt bekomme ich keine zwei zusammenhängenden Worte aus ihm raus.«
    Ricky griff in seine Tasche und reichte mir einen Schokoriegel. »Hier, kleiner Trost«, sagte er und verließ das Zimmer. Ich war so gerührt von seiner Freundlichkeit, dass ich den Riegel nicht aß, sondern in der Holzkiste aufhob, die ich im Werkunterricht gebastelt hatte.
    ***
    Die Luft in Peters Zimmer war blau vor Zigarettenrauch. Eigentlich war sie blau, weil das einzige Licht von der geisterhaften

Weitere Kostenlose Bücher