Tiger Unter Der Stadt
die peinlichen
und bösen.
Aus der Puntilastraße bogen sie in den schmaleren Mattiweg ein. Hier waren die Häuser nicht besonders hoch, sechs, sieben
Stockwerke vielleicht. Sie zählten zu den ältesten der Siedlung. Das sah man auch. Der Beton war rau und rissig, die Farben
verwaschen und blass. Der Mattiweg mündete in die Keunerstraße.
»Bevor ich weg bin, habe ich einen großen Topf Kartoffeln gekocht«, hatte der Tiger gesagt. »Quark ist im Kühlschrank, und
eine Schwarzwälder Kirschtorte hab ich zum Auftauen ins Schlafzimmer gestellt. Den Schlüssel zu meiner Wohnung müsst ihr euch
bei Frau Fischler holen, im Erdgeschoss.«
Außerdem sollten Jonas und Lippe noch verschiedene Tabletten, Tropfen und Salben mitbringen, eine Decke, ein kleines Radiogerät
und: »Ich brauche unbedingt |64| einen Kamm und eine Bürste. Ich muss mich kämmen, das mach ich jeden Tag, solange ich lebe. Ich bin doch kein Wilder.«
›Aber ein Tiger‹, hatte Jonas gedacht. Und Tiger kämmen sich nie.
»Eine Brille könnte ich auch noch brauchen, alles ist so unscharf. Die Ersatzbrille liegt in der Küchenschublade neben dem
Besteck.« Nach diesen Anweisungen war der Tiger mit hängendem Kopf in der Röhre verschwunden.
»Wir kommen wieder, Tante Tiger!«, hatte Jonas ihr noch hinterhergerufen. Die Antwort war ein mürrisches Grollen gewesen.
»Das ist es, Nase«, hatte Lippe neben ihm geflüstert. »Das ist ihr neuer Name. Hundertprozent. Volltreffer.«
Auch Jonas fand, je länger er darüber nachdachte, dass der Name passte. Innen Mensch und außen Tiger: Tante Tiger.
Die Häuser in der Keunerstraße sahen noch älter aus als die Häuser im Mattiweg. Eine Reihe Fenster, eine Reihe Balkone, eine
Reihe Fenster, eine Reihe Balkone. Jonas zählte nur fünf Stockwerke. Die neusten Häuser der Siedlung hatten über zwanzig Stockwerke.
Je neuer ein Haus, desto höher, und je höher, desto besser, fand Jonas. Tante Tiger hatte gesagt, dass ihr schwindlig werde
von der Höhe. Ob alte Menschen keine Lust mehr hatten, so weit wie möglich nach oben zu kommen?
|65| »Da!«, rief Lippe. »Da ist es!«
Auf einem der Klingelschilder stand
Ohm
, und zwei Reihen darunter
Fischler
.
Lippe zappelte mit Armen und Beinen: »Was, wenn sie den Schlüssel nicht rausrückt?«
»Lass mich mal«, sagte Jonas. »Du bist viel zu nervös.«
Jonas klingelte bei
Fischler
. Es knackte in der Sprechanlage und eine tiefe Männerstimme fragte: »Wer ist da?«
»Frau Ohm schickt mich«, sagte Jonas. »Ich soll den Schlüssel zu ihrer Wohnung holen.«
Jonas hörte, wie die Stimme in die Wohnung brüllte: »Für dich, Alte!«
Dann summte der Türöffner. Jonas ging ein paar Treppenstufen hinauf. Rechts von ihm öffnete sich eine Tür und eine Frau schob
sich heraus. Sie sah aus wie ein Schrank, über den jemand ein geblümtes Kleid gezogen hatte. ›Schwergewicht‹, dachte Jonas,
›mindestens 90 Kilo, das wird hart.‹
Frau Fischler hielt eine Hand über ihren Kopf. Zwischen Daumen und Zeigefinger baumelten an einem Ring zwei Schlüssel.
»Dich kenn ich gar nicht.«
Ihre Stimme war fast noch tiefer als die Stimme aus der Sprechanlage. Jonas schluckte. Frau Fischler hatte kleine, dunkle
Augen. Mäuseaugen. Und vor Mäusen muss man keine Angst haben, redete sich Jonas ein.
»Meine Oma ist plötzlich krank geworden«, sagte er |66| und sah zu Boden. »Und weil Frau Ohm die Schwester meiner Oma ist, ist sie zu ihr gefahren. Dann ist ihr eingefallen, dass
niemand die Blumen auf ihrem Balkon gießt. Und weil wir auch hier in der Siedlung wohnen, hat sie bei uns zu Hause angerufen
und gesagt, wir sollen bei Ihnen den Schlüssel holen und die Blumen gießen.«
Jonas hob den Blick.
Frau Fischlers Augen huschten schnell über sein Gesicht.
»Was ist mit dem Hund?«, fragte sie plötzlich.
Auf diese Frage war Jonas nicht vorbereitet. Ja, was war eigentlich mit dem Hund? »Herr Teichmann ist mit zu meiner Oma«,
sagte er, ohne nachzudenken.
Jetzt blieben die Augen zum ersten Mal stehen und fixierten Jonas. »Da hast du aber Glück«, brummte Frau Fischler. »Das Gekläffe
von dem Köter kann einen nämlich um den Verstand bringen.« Langsam senkte sich die Hand mit den Schlüsseln. »Wenn mir irgendwas
zu Ohren kommt, bist du dran«, murmelte Frau Fischler, ließ die Schlüssel in Jonas’ Hand fallen und schlug schnaufend die
Wohnungstür zu. Jonas zuckte zusammen und merkte, wie ihm der kalte Schweiß auf der
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