Tiger Unter Der Stadt
müde, Jonas schaute misstrauisch. Er war auf alles gefasst.
»Wir bleiben hier«, sagte Lippe. »Ich meine natürlich:
Sie
bleiben hier. In der Baugrube. Sie verstecken |60| sich genau dort, wo wir Sie vorhin gefunden haben, in dem trockenen Abwasserkanal, dort findet Sie kein Mensch. Und wir haben
Zeit, zu überlegen, wie Sie wieder aus dem Tiger herauskommen.«
»Keinen Schritt tu ich mehr in diese Gruft! Das ist Gift für meine alten Knochen, reines Gift. Da könnte ich mich ja gleich
ins Grab legen.«
»Wir machen es Ihnen gemütlich«, rief Lippe. »Sie kriegen alles, was Sie brauchen. Aber Sie müssen sich verstecken! Wenn Sie
auch nur ein einziger Mensch außer uns sieht, werden Sie gejagt, erschossen und eingesperrt.«
Lippe hatte die Augen weit aufgerissen; mit seinen wirren krausen Haaren sah es aus, als ob er unter Strom stehen würde. Der
Plan hatte ihn gepackt.
»Auf keinen Fall gehe ich wieder in dieses finstere Loch, das ist kein Ort für eine alte Frau.«
»Sie sind aber ein Tiger!«, schrie Jonas, der es plötzlich nicht mehr aushielt. »Ein richtiger echter Tiger! Wir glauben es
doch auch.«
In der folgenden Stille brannte die Sonne besonders heiß auf ihre Köpfe. Jonas’ Blick schweifte umher. Er stutzte. Auf einem
Stapel langer Metallrohre, die zwischen vier Pflöcken lagerten, stand ein Schlitten. Ein hölzerner Schlitten mit metallbeschlagenen
Kufen. Einer der Bauarbeiter musste ihn mitgebracht haben … aber wozu?
Schnee war unvorstellbar. Jonas fing an zu kichern. Auch Lippe hatte den Schlitten entdeckt und musste lachen. Immer lauter
und lauter lachten sie.
|61| Plötzlich knurrte der Tiger: »Ich habe Hunger.«
Das Gelächter erstarb. Jonas sah, wie Lippe kreidebleich wurde. ›Sprechen‹, dachte Jonas, ›Zeit gewinnen.‹ »Wir schmecken
nicht gut«, stotterte er. »Nach Cola und Kaugummi, das trifft bestimmt nicht Ihren Geschmack …«
»Woooaaarrr!«, heulte der Tiger und warf den Kopf in den Nacken. »Haltet ihr mich für eine Kannibalin, eine Menschenfresserin?«
»Unser Gefrierschrank im Keller ist voll mit Rindfleisch, Lammfleisch, Schweinefleisch«, warf Lippe mit zittriger Stimme ein.
»Ich kann was holen.«
»Ich kann Fleisch nur noch kauen, wenn es ganz klein geschnitten ist«, knurrte der Tiger und ließ sich wieder fallen.
Jonas verstand diese alte Frau im Tiger einfach nicht. »Auf was haben Sie denn Lust?«, fragte er.
»Kartoffeln mit Quark …? und später vielleicht ein Stück Kuchen oder noch besser Torte«, sagte der Tiger und blinzelte in
die Sonne.
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|62| Die alte Rosa
Jonas und Lippe gingen durch die Puntilastraße. Es war schon später Nachmittag, die Hitze drückender und schwerer als in der
Baugrube. Die Häuser links und rechts waren gedrungene, schwere Betonklötze.
Jonas mochte die Puntilastraße nicht. Lag wahrscheinlich an den Autos der Bewohner. Kleine aufgemotzte Karren mit viel überflüssigem
Schnickschnack, aus denen laute und unglaublich schlechte Musik dröhnte. Egal, um was es ging, Leute aus der Puntilastraße
hatten immer die größte Klappe. Und ihre Kinder genauso. Aber darüber konnte Jonas im Moment gar nicht nachdenken, denn Lippe
redete auf ihn ein: »… wahrscheinlich hat es dann einen Kampf der Seelen gegeben und die Seele der Oma war stärker, aber da
war ihr Körper schon aufgefressen, verstehst du? Sie konnte nicht zurück in ihren Menschenkörper, weil der nicht mehr am Leben
war. Und dann hat sie die Tigerseele einfach verscheucht und sich an ihre Stelle gesetzt.«
»Wo sitzt denn die Seele bei einem Tiger?«, fragte Jonas.
»Genau in der Mitte des Körpers«, sagte Lippe, »direkt in dem riesigen Magen. Deswegen denken Tiger vor allem ans Fressen.«
»Woher willst du das wissen?«
|63| »Weil nur dort Platz ist. Alles andere ist voller Innereien.«
Jonas schüttelte den Kopf und grinste gleichzeitig; kein Wort glaubte er, Lippe verstand genauso wenig wie er selbst. Lippe
wusste ja nicht mal, was eine Seele überhaupt war, geschweige denn, wie sie aussah und wie viel Platz sie brauchte. Jonas
selbst stellte sich bei einer Seele so etwas wie ein kleines Gespenst vor, vielleicht so groß wie ein Radiergummi, mit uralten
Augen in der Farbe des Abendhimmels, kurz bevor er ganz schwarz wird: ein tiefes, tiefes Dunkelblau … und dieses blauäugige
Geistlein huschte durch den Körper, konnte überall sein und kannte alle Gefühle und Gedanken, auch die schlimmen,
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