Tiger Unter Der Stadt
Stirn stand. Wenn Frau Fischler boxen
würde, wäre sie der Schrecken aller Boxringe, da war er sich sicher.
Die Wohnung war leicht zu finden, weil auch hier der Name an der Tür stand. Bei Jonas zu Hause stand |67| kein einziger Name an der Tür. So was macht man nicht in Hochhäusern. Die Wohnungen haben Nummern. Das genügt.
»Wir dürfen nicht vergessen, die Blumen zu gießen«, sagte Jonas, bevor er die Tür aufschloss. »Ich hab’s versprochen.«
Die Diele war klein wie eine Besenkammer. Überall hingen Mäntel und Jacken, auf kleinen Ablagebrettern standen Schuhe, lagen
Hüte und Handschuhe. Im Licht der trüben Glühbirne schienen alle Kleidungsstücke dunkel zu sein: dunkelgrün, dunkelblau, dunkelgrau,
schwarz.
»Das gibt’s doch nicht«, rief Lippe plötzlich. »Hier wohnt die alte Rosa!«
Er stand vor einem Haken, über dem nur Schals hingen. Und alle hatten dieselbe Farbe: ein leuchtendes, kräftiges Rosa. Vom
wollenen Winterschal bis zum hauchdünnen Seidenschal. Lippe hatte recht, es gab nur einen Menschen in der Siedlung, der solche
Schals trug. Die alte Rosa.
Jonas hatte sie oft gesehen. Jeden Tag war sie mit ihrem rosa Schal und ihrem Hündchen in der Siedlung unterwegs. Eine kleine,
alte Frau, etwas gebeugt, mit grauen Locken und einer großen Brille. Der rosa Schal um ihren Hals gehörte genauso zu ihrer
Erscheinung wie ein schreckhafter kleiner Hund, der ihr immer vor den Füßen herumtrippelte. Jonas hatte einmal beobachtet,
dass der Hund vor einem Blatt erschrocken war, das gerade von einem Baum heruntersegelte. Die alte Rosa hatte daraufhin mit
dem Baum geschimpft. |68| Jetzt wusste Jonas, dass der Hund Herr Teichmann hieß und die alte Rosa Kunigunde Ohm.
»Mensch, Lippe, weißt du noch, wie sie das letzte Mal am geborstenen Stein vorbeigekommen ist?«
»Klar«, sagte Lippe. »War ja meine Fernsteuerung und mein Auto, mit dem du den Hund überfahren wolltest.«
»Wollt ich nicht und hab ich auch nicht«, sagte Jonas gereizt.
Er erinnerte sich noch gut, wie der Hund zu toben und zu heulen angefangen hatte, als das Auto auf ihn zugerast war und erst
kurz vor ihm gewendet hatte.
»Meinst du, sie hat uns erkannt?«, fragte er Lippe.
»Vielleicht am Geruch. Ich hab dir ja schon gesagt, dass Tiger fast alles riechen können, was irgendwie riecht. Also zum Beispiel,
wenn eine Ameise gegen einen Grashalm gepinkelt hat.«
»Aber da war sie noch kein Tiger, falls dir das damals nicht aufgefallen ist!«
Lippe sah ihn an und sagte ausnahmsweise nichts.
Die Wohnung war selbst für eine Hochhauswohnung sehr klein.
In dem einzigen Zimmer standen ein Bett, ein kleines Sofa, ein Tisch, ein Schrank, eine Kommode und Regale. Bei Frau Ohm sah
es ganz anders aus als bei Jonas zu Hause. Es war ordentlicher als in seinem eigenen Zimmer, trotzdem gab es viel mehr Dinge.
Viele davon waren in Schachteln und Kartons untergebracht, die in Regalen, auf Schränken, unter der |69| Kommode und unter dem Bett standen. Ob das alle alten Frauen so machten?
Jonas fühlte sich unbehaglich, während er durch das Zimmer ging und sich umsah. Einmal hatte er heimlich in Veras Sachen gekramt
– das war ein ähnliches Gefühl gewesen.
Neben ihm zog Lippe die Luft durch die Nase. »Muffig, aber nicht so süß-säuerlich wie bei meinem Großonkel. Da musst du mal
reingehen, der Gestank haut dich um. Trotzdem sollten wir mal lüften.« Er ging zum Fenster und öffnete es. »Schau mal«, sagte
er dann. »Zwei Hühner.«
Jonas ging zum Fenster und sah hinunter. Auf einer Mauer neben dem Hauseingang saßen zwei schwarzhaarige Mädchen. Sie langweilten
sich. Jonas sah das auf den ersten Blick: schon wie sie die Füße baumeln ließen! Das wunderte Jonas. Mädchen hatten fast immer
was zu tun. Und wenn es gar nichts mehr zu hüpfen, tuscheln oder kichern gab, dann machten sie eben Hausaufgaben.
Die beiden da unten saßen einfach nur auf der Mauer. Jetzt kam aus dem Mund der einen eine große Kaugummiblase. »Gummihühnchen«,
sagte Jonas. Lippe musste kichern.
Die Mädchen mussten etwas gehört haben, sie sahen zum Fenster hoch. Jonas und Lippe duckten sich prustend weg.
»Los, Lippe«, sagte Jonas. »Lass uns das Futter holen und verschwinden.«
In der Küche fanden sie auf dem Herd einen hohen |70| Topf, randvoll mit gekochten Kartoffeln. Der Topfdeckel hatte statt einem Griff einen Henkel aus großen bunten Perlen, die
mit einem festen Zwirn zusammengebunden waren.
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