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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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schlechter Laune, als ich so ein junges Ding war. Weißt du, Jonas«, Tante Tiger schüttelte den Kopf, »das
     ist wirklich ein saudummes Alter, in dem deine Schwester jetzt ist; obwohl einem nichts fehlt, hat man ständig Bauchweh vor
     Kummer und Sehnsucht nach, ach, nach allem möglichen dummen Zeug, Freiheit, Liebe, anderen Eltern, einem wilderen Leben. Und
     keiner versteht einen, vor allem nicht die eigene Familie, und das ist schlimm.«
    »Mich versteht auch keiner«, warf Jonas ein. »Außer Lippe und … Ihnen.«
    »Hrrrmmmm«, brummte Tante Tiger geschmeichelt und leckte sich mit der Zunge über die Schnauze. »Aber das Schlimmste in dem
     Alter deiner Schwester ist: Du verstehst dich selbst nicht.«
    So hatte noch niemand mit Jonas gesprochen: so ernst und ehrlich. Das war besser als die üblichen Vertröstungen. Wahrscheinlich
     dachten die meisten Erwachsenen, dass er solche Sachen nicht verstehen würde, und da hatten sie sogar recht; es war ihm wirklich
     ein Rätsel, was Tante Tiger mit ihrem letzten Satz gemeint hatte. Aber er würde darüber nachdenken.
    »Ich glaube, Sie sind eine weise alte Frau«, sagte Jonas, obwohl ihm nicht ganz klar war, was das Wort |153| ›weise‹ genau bedeutete. Vielleicht hatten alte Menschen mehr Zeit, sich Gedanken zu machen.
    Der Tiger lachte grollend. »Eine alte Schachtel bin ich immer noch, da hast du recht. Hrrrmmmm … aber wenn ich weise wäre,
     wüsste ich, ob ich noch eine Frau bin oder schon ein Katzenvieh … oder was auch immer.«
    Sie schwieg und Jonas dachte nach. »Wollen Sie überhaupt wieder ein Mensch werden?«, fragte er plötzlich, ohne den Tiger anzusehen.
     Er starrte auf die beiden roten Lederherzen auf seinen Schuhkappen; sie waren unendlich peinlich. Aber fast war ihm das egal.
     Auf einmal gab es Sachen, die wichtiger waren.
    Tante Tigers Antwort kam so leise, dass Jonas sich weit nach vorn beugen musste, um sie zu verstehen. »Wenn ich das wüsste,
     Bub, dann wär mir wohler. Weißt du, ich freu mich jeden Tag, dass ihr hier vorbeikommt. So viel Besuch hatte ich schon lange
     nicht mehr.«
    Auch Jonas hatte sich, trotz seiner Furcht vor dem Raubtier, Tag für Tag mehr auf die Tante im Tiger gefreut. »Wir müssen
     auf jeden Fall von hier weg«, sagte er. »Vera petzt bestimmt wieder.«
    »Die wird sich hüten, zu erzählen, dass sie ihren kleinen Bruder mit einer Eisenstange verprügeln wollte, und alles andere
     glaubt ihr keiner … eine knurrende, brüllende Kanalratte, GROAH, GROAH, GROAH …« Tante Tiger lachte.
    »Wir müssen aber weg hier. Es ist nicht mehr sicher. |154| Auch der Schlittenfahrer hat seinen Schlitten mitgenommen und ist gegangen. Irgendwas passiert hier!« Jonas holte Luft. »Wir
     müssen zum Klärwerk, das ist Ihre einzige Chance, wieder ein Mensch zu werden.«
    »Ich bleibe hier«, knurrte Tante Tiger. Der Blick ihrer gelben Augen war starr und stechend. »Den Gestank ertrag ich nicht.«
    »Hier stinkt es genauso!« Jonas sah den Tiger wütend an und kam sich dabei wie seine eigene Mutter vor, wenn sie zum hundertsten
     Mal damit anfing, dass er mal wieder zum Zahnarzt müsse.
    »Wo ist denn das Fleisch?«, knurrte Tante Tiger. »Ich habe Hunger.«
    Jonas erschrak. Der Wagen mit dem Fleisch musste noch immer draußen in der Baugrube stehen. Er stürzte hinaus.
    Als er den Griff packte, stellte er fest, dass er wieder Gefühl in den Fingern hatte.

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    |155| Zum stinkenden Strom
    »Die Liebe ist ein Floh. Du weißt nie, wen sie als Nächstes beißt. Sagt meine Oma in Russland immer.« Das war alles, was Lippe
     einfiel, als Jonas ihm am nächsten Tag erzählte, dass Vera in Igor verliebt war.
    Sie lagen auf dem gesprungenen Stein. Kaum eine Wolke war zu sehen. Bald würde es wieder so heiß sein, dass sie sich unter
     der Tischtennisplatte verkriechen mussten. Nirgends ein Mensch. Es war Samstagvormittag, und die ganze Siedlung trieb sich
     im Supermarkt herum. Auch Lippe musste noch Einkäufe für seine Mutter erledigen. Dass er dazu keine Lust hatte, war ihm anzusehen.
     Er lag auf dem Rücken und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach: dem Erwägen unmöglicher Möglichkeiten.
    »Weißt du, Nase, wir könnten Tante Tigers fürchterlichstes Grollen aufnehmen und in Veras Wecker einbauen. Aus lauter Angst
     vor dem fürchterlichen Weckerklingeln wird sie sich nie mehr den Wecker stellen, sie verschläft andauernd, fliegt von der
     Schule und wir sind sie los, weil sie dann auf ein Internat

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