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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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gefährlich, tödlich.
     Jonas und Lippe traf die Aggression mit solcher Wucht, dass sie zu Boden sanken und sich wie Käfer zusammenrollten. Schlagartig
     brach das Fauchen wieder ab und Tante Tiger richtete sich aus ihrer geduckten Haltung zu voller Größe auf.
    »Du bist mir auf den Schwanz getreten, Philipp«, krächzte sie weinerlich in Lippes Richtung und ließ sich beleidigt auf den
     Boden fallen.
    »Tut mir leid«, stammelte Lippe und schob sich langsam aus dem kleinen Raum hinaus.
    Jonas hatte sich so weit von dem Schreck erholt, dass er sich aufsetzen und anlehnen konnte. Im trüben Schein seiner Taschenlampe
     erkannte er immer nur Teile des Tigers. Als er seine Lampe auf den Tigerkopf richtete, sah er, dass Tante Tiger gerade versuchte,
     die Enden des rosaroten Schals, der nach wie vor um ihren Hals geschlungen war, zurück in ihre Ohren zu stopfen. Die Schalenden
     bestanden aber nur |179| noch aus zerrupften Wollfäden, so stark hatten ihnen die Krallen schon zugesetzt. Die einzelnen Fäden in die Ohren zu stopfen,
     gelang ihr mit den großen Pranken nicht.
    Jonas ging zu Lippe, der mit schreckgeweiteten Augen gleich neben der Raumöffnung an der Wand lehnte. Jonas zwinkerte ihm
     zu und zog ihm dabei die Packung Papiertaschentücher aus der Jackentasche. Damit ging er zurück zu Tante Tiger und stopfte
     in jedes ihrer wunderschönen Ohren ein ganzes Taschentuch.
    »Hören Sie mich noch?«, fragte er und trat einen Schritt zurück.
    »Ich bin ja nicht taub«, knurrte Tante Tiger. »Leider!« Sie ließ den Kopf sinken. »Das ist die Hölle. Alles vergeht einem,
     es gibt nur noch diesen Lärm und kein Entrinnen. Eisenstangen und Gitter haben sie angebracht, sodass ich nicht mehr raus
     kann.« Sie fletschte die Zähne. »Die können doch eine alte Frau nicht einfach einsperren. Das geht doch nicht! Aber ich hab’s
     ja gesagt, hier muss ich sterben … Aaaaarrrrrr … Ich hab so fürchterliche Kopfschmerzen, Jonas, es ist grauenhaft.«
    Zum ersten Mal sah sie Jonas direkt an. Das Gelb ihrer Augen war nur noch ein kleiner Ring um die schwarzen Pupillen, so wenig
     Licht gab Jonas’ Lampe; er ahnte den Tiger mehr, als er ihn sah.
    »Ich hab gewusst, dass es ohne Medikamente nicht gutgehen kann«, fuhr Tante Tiger fort. »Nicht in meinem Alter. Habt ihr mir
     Kopfwehtabletten mitgebracht?«
    |180| Jonas schüttelte den Kopf: »Nein, aber wir können zusammen von hier verschwinden.«
    »Ich springe auf keinen Fall mehr in diese zähe, stinkende Brühe, lieber werd ich hier verrückt.« Tante Tigers Tatzen zuckten
     und ihr Schwanz peitschte durch die Luft. Jonas ließ sich zur Seite fallen, sonst hätte es ihn erwischt.
    »Sie brauchen nicht zu schwimmen«, rief da eine Stimme von außen in die Nische. »Sie werden auf einem Luftkissen übers Wasser
     schweben.« Lippes Gesicht war in der Öffnung erschienen. Er war noch aschfahl, aber in seinen Augen schimmerte schon wieder
     sein Plan. »Kommt!«, rief er und war verschwunden.
    ›Ein Glück‹, dachte Jonas, ›er will weiter.‹ Jonas wusste, dass Lippes Angst immer größer war als seine eigene; Lippe konnte
     einfach besser Angst haben, so wie manche Menschen besser Witze erzählen konnten als andere … Und er, Jonas, was konnte er?
     – Grübeln! Jonas stopfte sich das herausgenommene Taschentuch wieder ins Ohr und wollte Lippe folgen.
    »Warte!«, raunte Tante Tiger. Sie schob ihren Kopf unter ein paar Säcke, die in der Ecke lagen, und als sie sich Jonas wieder
     zuwandte, hatte sie etwas im Maul. Es war dunkel und länger als eine Hand, aber nicht ganz so breit. Tante Tiger reckte Jonas
     den Kopf entgegen. Jonas verstand und griff nach dem Gegenstand. Es war der Kamm, den sie aus der Wohnung der alten Rosa mitgebracht
     hatten.
    »Danke«, sagte Tante Tiger. »Kannst du ihn für mich einstecken?«
    |181| Jonas nickte und schob den Kamm in seinen Rucksack.
    Dann folgten sie Lippe, dessen Lichtkegel ein gutes Stück vor ihnen durch die Dunkelheit schwankte.
     
    Lippe erwartete sie direkt vor der eisernen Schleuse, durch die Tante Tiger vor zwei Wochen gespült worden war. Der Röhrenboden
     war noch immer bedeckt mit den getrockneten Resten des Abwassers, das damals mit dem Tiger hereingeschwappt war. Es stank.
     Obwohl Jonas diesen Geruch schon kannte und schon einmal ausgehalten hatte, wurde ihm wieder übel.
    Lippe kniete am Boden der Röhre und hatte bereits den grünen Mundschutz über das Gesicht gezogen. Wie ein Arzt bei der

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