Tiger Unter Der Stadt
Operation
beugte er sich über das schwere Bündel, das er mitgebracht hatte. Tante Tiger setzte sich ein Stück entfernt auf den Röhrenboden.
Jonas sprang jetzt ebenfalls hinunter in die Röhre und stellte sich neben Lippe.
»Jetzt kommt’s«, sagte Lippe. Er zog eine orangefarbene Rolle aus dem Plastiksack und gab ihr einen Stoß, sodass sich die
Wurst entrollte und Jonas endlich erkannte, was es war: ein Schlauchboot.
»Ist ein Familienstück«, sagte Lippe. »Da haben wir sogar schon zu sechst drin gesessen. Also wird es für Tante Tiger wohl
reichen.« Er warf einen Blick in ihre Richtung. Tante Tiger sagte nichts, beobachtete nur, was vor sich ging. Lippe griff
wieder in den Sack und zog einen Blasebalg heraus.
|182| Sie wechselten sich ab mit dem Treten des Blasebalgs, trotzdem schmerzte Jonas bald die rechte Wade.
»Ich werde keinen Fuß in diese Gummiente setzen«, kam es da plötzlich aus der Dunkelheit. »Das trägt mich nie und nimmer!
Außerdem wird mir von dem Geschaukel bestimmt schlecht.«
»Dann bleiben Sie eben hier und fressen Scheiße!«, kreischte Lippe und schlug mit der flachen Hand auf das Schlauchboot. So
wütend hatte Jonas seinen Freund noch nie gesehen. »Wir rackern uns hier ab wie die dümmsten Deppen. Schleppen jeden Tag Berge
von Fleisch in diese stinkende Röhre, sterben dabei halb vor Angst, beklauen und belügen unsere Eltern. Dann zerbrechen wir
uns noch den Kopf, wie wir Sie hier rausbringen können, rüsten eine ganze Rettungsexpedition aus, verschwinden von zu Hause
ohne ein Wort, riskieren Riesenärger und dann sagt die liebe Tante: ›Das wackelt mir zu sehr.‹ Hier gibt es leider keine Eisenbahn,
mit der wir fahren können … Ich mach jetzt überhaupt nichts mehr!«
Lippe ließ sich in das vollgepumpte Boot fallen.
Tante Tiger kam aus der Dunkelheit getrottet. Neben dem aufgeblasenen Boot blieb sie stehen. »Entschuldige, Philipp!«, rief
sie, um den Lärm der Baustelle zu übertönen. »Aber ich kann nicht schwimmen.«
»Blödsinn!«, schrie Lippe. »Tiger können stundenlang schwimmen, wenn sie wollen.«
»Ich bin aber kein Tiger, sondern ein altes Weib im Tigerpelz, das sich fürchtet.«
|183| »Ich fürchte mich auch – und zwar vor Ihnen. Und trotzdem bin ich hier!«
»Du bist ja auch noch jung, da hat man noch was von seinem Mut.« Tante Tiger war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. »Aber
wozu soll ich altes Weib mich noch gegen meine Ängste wehren? Sind ja fast schon Freunde.«
»Solche Freunde möchte ich nicht haben«, sagte Jonas. »Die können einem ja nie helfen.«
Die Tigeraugen sahen Jonas an. Wie immer durchdringend und undurchdringlich zugleich. ›Können Tiger eigentlich lächeln?‹,
fragte sich Jonas in diesem Moment. Er konnte sich an kein Lächeln erinnern, aber vielleicht ging das mit dem Tigermund auch
nicht. Tante Tiger wandte den Blick von Jonas ab und beschnupperte das Boot.
»Ihr habt ja recht«, sagte sie dann. »Wagen wir also eine kleine Bootspartie.«
Lippe stöhnte auf und raufte sich mal wieder die Haare. Jonas zuckte die Schultern. Die Expedition begann anstrengender als
gedacht, und das Anstrengendste war Tante Tiger.
Das Boot schwamm schon. Jonas hielt einen Strick, der am hinteren Ende befestigt war, Lippe einen, der vorn festgeknotet war.
Neben ihren Füßen schob sich träge das Abwasser durch den großen Kanal. Sie hielten das Boot so, dass es genau vor der Schleuse
schwamm. Dahinter, in der trockenen Röhre, kauerte Tante Tiger. Um den Hals trug sie außer dem rosafarbenen |184| Schal noch eine der feuerroten Schwimmwesten.
Jonas und Lippe waren in die beiden anderen Westen geschlüpft; ein Zug an der Reißleine würde genügen, um sie im Bruchteil
einer Sekunde mit Luft zu füllen. Tante Tiger hatte allerdings darauf bestanden, ihre Weste gleich aufzublasen; zur Beruhigung,
wie sie sagte. Ein Tiger mit einem dick geschwollenen roten Hals: Es sah komisch und schrecklich zugleich aus. Jetzt musste
sie nur noch springen.
»Sie dürfen auf keinen Fall die Krallen ausfahren, wenn sie aufkommen«, rief Lippe. »Sonst haben wir ein Loch im Boot!«
Tante Tiger stieß nur einen kurzen Knurrlaut aus und sprang. Kaum sichtbar setzten die riesigen Pranken auf der Torschleuse
auf. Sie schienen die eiserne Kante kaum zu berühren. Der riesige Körper schwebte kurz auf dieser Kante, stieß sich wieder
ab und landete mitten im Boot. Die Bewegung war so leicht und
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