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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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flüssig, als wäre Tante Tiger ein Eichhörnchen, das einen Ast
     höher springt.
    Das Boot war mit diesem einzigen Passagier völlig ausgefüllt. Den Schwanz hatte Tante Tiger um ihr Hinterteil gerollt, damit
     er nicht in die Kloake hing; der Kopf mit der Schwimmwestenkrause lag auf der Schlauchbootwand.
    »Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte sie jetzt.
    »Stromabwärts«, sagte Lippe.
    »Zum Klärwerk«, fügte Jonas leise hinzu.
    Tante Tigers Schwanz schlug dumpf gegen die |185| Schlauchbootwand. »Nein«, krächzte sie. »Was soll ich da?« Die Schwimmweste schien ihr doch etwas die Luft abzudrücken.
    »Frei sein«, sagte Lippe. »Es gibt sowieso keinen anderen Weg. Wir müssen dahin, wo der ganze Mist hinfließt, und das ist
     das Klärwerk.«
    Lippe ging voran, er hatte die bessere Lampe. Jonas folgte und leuchtete so gut es ging mit seiner Funzel. Da sie mit der
     Fließrichtung des Abwassers gingen, hatten sie keine Mühe, das Boot zu ziehen, im Gegenteil: Manchmal musste Jonas es sogar
     bremsen, damit es nicht zu schnell schwamm. Das Boot lag ziemlich tief im Wasser. Tante Tiger musste ein unglaubliches Gewicht
     haben.
    »Seid vorsichtig!«, maunzte sie immer wieder.
     
    So zogen sie hinein in die Finsternis des großen Abwasserkanals: zwei Jungen mit einem Tiger, der in einem Schlauchboot neben
     ihnen herglitt. Allen dreien ragten Papiertaschentücher aus den Ohren wie kleine weiße Flaggen, so als wollten sie sagen:
     ›Keine Angst – wir kommen in friedlicher Absicht.‹

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    |186| Ewig ist die Dunkelheit
    Sie folgten Lippes Lampe; alles außerhalb des Lichtkegels lag im Dunkeln. Jonas war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob da
     überhaupt etwas war, er wusste auch nicht, ob sie vorankamen. Die einzige Abwechslung waren die Geräusche. Mal tropfte es
     leiser, mal lauter, mal schmatzte und gluckste es neben ihnen mehr, mal weniger. Die Taschentücher hatten sie sich schon längst
     wieder aus den Ohren gezogen. Es war sehr still, und der dumpfe Hall ihrer Schritte, ihres Atems und der Tropfgeräusche verstärkte
     die Stille noch. Fast wünschte sich Jonas den Baustellenlärm zurück.
    Immer wieder überquerten sie kleinere Kanäle, die in den großen Abwasserkanal mündeten. Jeder Zufluss hatte eine eigene Geruchsnote.
     ›Wahrscheinlich riecht es immer nach dem, was am meisten gegessen wird‹, dachte Jonas. Er meinte Kohl, Fisch und Kotelett
     zu erkennen. Jonas sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Eine halbe Stunde waren sie erst hier unten und das Glühbirnchen
     seiner Lampe glomm nur noch als dunkelorangener Punkt. Es hatte keinen Sinn mehr, Jonas schaltete die Lampe aus. Sofort nahm
     er andere Sinneseindrücke schärfer wahr. Ein Wassertropfen fiel auf seine Nase, teilte sich und lief den linken und den rechten
     Nasenflügel herab.
    Genau in dem Moment, als der halbierte Tropfen |187| die Oberlippe erreicht hatte, kreischte Lippe auf und Tante Tiger fauchte wild. Jonas sah, dass Lippe nach etwas trat, gleichzeitig
     ruckte das Seil in seiner rechten Hand. Jonas starrte zum Boot hinüber, konnte aber nur dunkle Umrisse auf dem Wasser ausmachen,
     weil Lippes Lampe, die einzige Lichtquelle, nach unten gerichtet war. Immerhin erkannte Jonas, dass Tante Tiger sich im Boot
     aufgesetzt hatte und dass nur noch der Strick in seiner Hand das Boot hielt. Aus irgendeinem Grund hatte Lippe das Bugseil
     losgelassen. Hektisch begann Jonas, das Seil einzuholen, damit Lippe wieder an seinen Strick kam.
    »Pass auf, sie kommt!«, rief Lippe plötzlich.
    Jonas sah auf. Lippe lehnte bleich an der Wand, den Strahl seiner Lampe hatte er auf das schmale Stück Sims zwischen ihnen
     gerichtet. Jonas’ Blick folgte dem Strahl der Lampe … Eine Ratte!
    Zögernd und schnuppernd huschte sie auf ihn zu. Sie war viel kleiner, als er sich eine Kanalratte vorgestellt hatte. ›So lang
     wie mein Unterarm‹, hatte sein Vater gesagt. Diese Ratte war höchstens halb so lang, dunkelgrau, mit einem hellen nackten
     Schwanz. Die war bestimmt nicht allein, dachte Jonas und fühlte plötzlich Panik in sich aufsteigen. Wenn sie kamen, kamen
     Ratten immer in Massen und überfluteten alles; das war das Schlimmste an ihnen. Zum Glück hatten sie eine Katze dabei, sogar
     eine ziemlich große.
    Jonas riskierte einen Seitenblick auf das Schlauchboot, das er fast bis an die Kanaleinfassung gezogen |188| hatte. Tante Tiger saß steif aufgerichtet im Boot, das Nackenfell gesträubt und die Fangzähne entblößt.

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