Tiger Unter Der Stadt
Ausschnitt des Abendhimmels gesehen hatte, war der Umriss eines Kopfes; außerdem meinte er, ein zartes Schmatzen gehört zu
haben. War das ein Kuss? Egal, dachte er, der Deckel war drauf, den kriegten sie nicht wieder hoch.
Die Dunkelheit wurde jetzt nur noch von Lippes Stirnlampe erhellt. Der Lichtschein aus der Lampe in Jonas’ Mund war kaum der
Rede wert; ein trüber Fleck auf dem Beton.
Je tiefer sie die Krampen hinunterstiegen, desto kühler wurde es. Anfangs war es angenehm, eine Erfrischung nach der Hitze
der Oberfläche, aber dann begann Jonas zu frösteln. Als sie das Sims in der trockenen Abwasserröhre erreichten, klebten die
vom Schweiß feuchten Kleider kalt auf seiner Haut. Aber das spürte er schon gar nicht mehr.
Ein ungeheures Dröhnen, Brummen und Quietschen erfüllte die Röhre und verdrängte alle anderen Empfindungen. Die Baustelle.
Obwohl es über hundert Meter sein mussten bis zur Baugrube, war sich |176| Jonas sicher, dass der Lärm hier schlimmer war als im Freien. Die Abwasserröhre wirkte wie ein Hörrohr. Jonas presste die
Hände auf die Ohren und kämpfte gegen den Kopfschmerz. Lippe fummelte an der Brusttasche seiner Jacke herum. Endlich zog er
etwas Weißes heraus, riss es in zwei Teile und verstopfte sich damit die Ohren. Er hielt Jonas den nach oben gestreckten Daumen
entgegen, grinste und zog noch ein Papiertaschentuch heraus. Jonas nahm es, zerriss es und stopfte sich die beiden Fetzen
in die Ohren. Der Lärm wurde erträglicher, der Schmerz hinter seinen Schläfen ließ nach. Jonas gab Lippe ein Zeichen und grinste
zurück. Erst jetzt bemerkte er, dass er vor Kälte zitterte.
Sie sprangen von dem Sims auf den Grund der Röhre und suchten ihre Sachen. Lippes verschnürtes Bündel lag gleich unter dem
Einstiegsschacht, die Schwimmwesten mussten sich im Fallen aufgefaltet haben; sie lagen etwas verstreut in der Röhre.
Sie gingen nach rechts, weg von der Baustelle, weg von dem Lärm, in die Richtung, aus der der Gestank kam. Es ging sanft abwärts.
Jonas erinnerte sich noch genau: Hier war er vor zwei Wochen entlanggeschlichen, es war genauso dunkel und kühl gewesen, aber
trotzdem ganz anders. Stiller, unheimlicher, jeder Schritt hatte endlos gehallt. Damals waren sie aus Neugier und Langeweile
hier heruntergestiegen, jetzt hatten sie ein Ziel: Sie mussten ins Klärwerk. Und Tante Tiger musste mit!
Auch ihre Ausrüstung war besser, sie hatten |177| Schwimmwesten. Zwar waren sie nicht zu viert, wie damals sein Vater, aber hoffentlich bald zu dritt. Wo steckte nur der Tiger?
Jonas und Lippe gingen jetzt langsamer, leuchteten, so gut es ging, auch in die Nischen und kleinen Räume, die sich immer
wieder auf Höhe des Simses in der Röhrenwand öffneten. Der Baulärm nahm allmählich ab, der Gestank zu. Sie näherten sich dem
großen Abwasserkanal.
Lippe deutete nach rechts auf eine Nische, auf die der Schein seiner Stirnlampe fiel: eine Öffnung in der Betonwand, so groß
wie eine Tür; dahinter war es dunkel. Aus der Öffnung hing etwas über das Sims. Ein Stück Schlauch. Aber der Schlauch zuckte.
Und er war behaart!
Jonas und Lippe kletterten vom Boden der Röhre auf das Sims und leuchteten in den Raum hinter der Öffnung. Er war schmal,
länglich und kahl. Ein großer Haufen alter Säcke lag am Boden. Von Tante Tiger war nichts zu sehen bis auf den gestreiften
Schwanz, der sich aus dem Säckehaufen herausschlängelte. Lippe stand hinter Jonas und beleuchtete die Säcke. Jonas beugte
sich zu dem hinteren Ende des Hügels, dorthin, wo er den Tigerkopf vermutete. »Tante Tiger! Wir sind’s. Philipp und Jonas.«
Der Hügel rührte sich nicht.
»Nicht anfassen«, zischte Lippe. »Wer weiß, was sie da drunter gerade macht, vielleicht schläft sie ja.«
»Wir bringen Sie hier weg«, sagte Jonas jetzt etwas lauter.
|178| »Genau!«, rief Lippe von hinten; weil er die Ohren verstopft hatte, schrie er fast. »Ich habe ein tolles Transportfahrzeug
für Sie dabei, fast so bequem wie eine Matratze.« Wie immer, wenn Lippe aufgeregt war, hüpfte er von einem Bein aufs andere.
Plötzlich fuhr der Tigerkopf aus den Lumpen und brüllte so laut, dass Jonas das Gefühl hatte, gegen die Wand geblasen zu werden.
Mit einer einzigen fließenden Bewegung wendete Tante Tiger ihren massigen Leib, duckte sich, riss das Maul auf und entblößte
ihr Gebiss. Gleichzeitig drang ein heiseres Fauchen aus ihrer Kehle. Alles an dem Tiger war bedrohlich,
Weitere Kostenlose Bücher