Tiger Unter Der Stadt
Schwimmweste! Er trug noch immer die Schwimmweste! Jonas tastete |207| verzweifelt nach der Reißleine an seiner Schulter, fand sie endlich und zog. Mit lautem Zischen füllt sich die Weste mit Luft.
Fast im selben Moment verebbte das Brodeln und Blubbern, die Wirbel ließen nach und Jonas schoss, von der Schwimmweste gezogen,
nach oben.
Am ganzen Leib schlotternd, genoss Jonas jeden Atemzug.
›Fast wäre ich tot …‹ Sonst dachte er nichts.
Nach einer Weile, die wie eine Ewigkeit war, die allmählich schrumpfte, bis Jonas wieder spürte, wie die Zeit verstrich und
wie kalt ihm war, paddelte er zum Beckenrand und zog sich mühsam heraus.
Die Alte war verschwunden. Jonas schauderte bei dem Gedanken an ihren Gesichtsausdruck, als sie die Gabel gehoben hatte. Das
war nicht Wut oder Hass gewesen wie in Veras Gesicht, wenn sie nach ihm schlug, sondern ein eiskalter, berechneter Angriff
und deswegen so überraschend.
Jonas tastete nach seiner Wange und fühlte drei geschwollene Striemen. Ganz klar, die Alte war gefährlich. Jonas überlegte
noch einmal, woran ihn ihr Gesicht erinnert hatte, aber andere Gedanken schoben sich dazwischen: Wo steckte bloß Lippe? Wenn
er ihn brauchte, war er nicht da!
Jonas ließ den Kopf auf die Knie sinken, dabei stieß sein Kopf an etwas Hartes: die Armbanduhr. Der Sekundenzeiger wanderte
gleichmäßig über das Zifferblatt.
|208| »Danke, Papa«, murmelte Jonas und spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen; meistens verkniff er sich das Weinen, half
ja sowieso nichts. Jetzt war es ihm egal.
Jonas erhob sich erst, als er keine einzige Träne mehr in seinen Tränensäcken hatte. Er fühlte sich leicht und frei wie lange
nicht mehr, und Zuversicht stieg in ihm auf.
›Wasser‹, dachte er. ›Einfaches, klares Wasser.‹ Jonas wollte sich das Gesicht waschen; außerdem hatte er festgestellt, dass
seine ganze Kleidung mit dunklen schmierigen Flocken bedeckt war. Mit ein paar Farnwedeln wischte sich Jonas das dunkle Zeug,
die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht. Er war sich sicher, dass er nicht besonders gut roch. Egal, sagte er sich, stank
ja sowieso alles hier.
Er ließ die Luft aus seiner Schwimmweste und ging zu seinem Rucksack. Der stand noch genauso da, wie er ihn verlassen hatte.
Jonas verstaute auch die dritte Weste und setzte ihn auf. Er musste Lippe und Tante Tiger wiederfinden. Aber wo? Auf keinen
Fall wollte er sich in das Dickicht schlagen, in dem die beiden verschwunden waren. Irgendwo da drinnen, zwischen den schwarzen
Blättern, saß die Alte und lauerte mit ihrer Gabel, da war sich Jonas sicher. Direkt auf die Musik zu wollte er auch nicht
gehen. Aber dorthin musste er, von dort mussten die Gerüche kommen, die Tante Tiger so angezogen hatten.
Jonas zögerte kurz, dann schlich er zur Rückseite des nächstgelegenen Gebäudes. Es stand längs des Dickichts, lediglich ein
schmaler, farnbewachsener |209| Streifen blieb zwischen der weißen Wand und den verschlungenen Ästen. Jonas zog die Brechstange aus seinem Rucksack. Sollte
wieder jemand mit einer Gabel auf ihn losgehen, würde er sich wehren.
Fest an die Mauer gepresst, das Dickicht immer im Blick, schob sich Jonas die Wand entlang. Am Ende der Wand sah er einen
flackernden, bunten Lichtschein. Je näher Jonas der Mauerkante kam, desto lauter und klarer wurde die Musik. Sie war wild
und betörend: Trommeln und darüber eine Melodie aus heulenden, fast klagenden Tönen. Es war, als würde auf einmal Musik statt
Blut durch seine Adern pulsieren. Jonas zwang sich, nicht mit den Armen und Beinen zu zucken, während er in die Hocke ging
und vorsichtig um die Gebäudekante spähte.
Eine gepflasterte Fläche lag vor ihm. In der Mitte der Fläche war ein Berg Glut aufgehäuft, von dem kleine Flammen aufzüngelten.
Über der Glut drehte sich ein großes Tier an einem Spieß.
Auf dem Boden um die Glut herum standen dickbauchige Fässer auf Gestellen und flache Schalen mit Weintrauben, Käse- und Brotlaiben.
Dazwischen lagen Menschen. Manche auf Kissen oder Jacken, manche auf dem blanken Stein. Einige saßen auch auf Bürostühlen.
Zwischen den Menschen bewegte sich ein riesiger Mann mit einem Instrument, das er wie einen Blasebalg vor seinem Bauch auf-
und zuzog. Ein Akkordeon. Stirn und Nase des Hünen glänzten rötlich, der |210| Rest des Gesichts verschwand in einem wüsten Bart. Schwere Locken fielen ihm bis auf die Schultern. Seine nackten
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