Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
verschlangen Anna für einen Moment. Sie unterdrückte ein Zittern, als sie das sinnliche Versprechen in den grünen Tiefen las. Er wusste genau, dass der Handkuss nur die Andeutung einer Berührung durch seine Lippen verlangte. Zorn blubberte in ihrer Magengrube.
Christopher reichte ihr den Arm, den sie notgedrungen ergreifen musste, und er geleitete sie hinter Lord und Lady Winchester die Treppen hinauf.
„Welch eine Freude, dich zu sehen, liebe Anna.“ Seine Stimme hatte etwas an sich, das Anna durch und durch ging.
Die Wut, die eben noch in ihrer Körpermitte zentriert gelegen hatte, stieg hoch. Und einen Moment lang, nur für die Dauer eines Wimpernschlages, kam Anna der Gedanke, dass der Zorn nur Produkt ihrer unziemlichen Empfindungen war, die zu unterdrücken sie nicht imstande war.
„Lass die Scharade, Christopher! Ich bin nicht erfreut, dir wiederzubegegnen. Es ist eine äußerst unangenehme Situation.“
Er lachte und tätschelte ihren Arm. „Meine liebe Anna, was bist du für eine geistreiche junge Dame. Es wird mir eine Freude sein, dich an diesem Wochenende näher kennenzulernen.“
Anna starrte ihn an und sah in seinen Augen wilde Entschlossenheit funkeln. Er wollte Krieg? Den sollte er bekommen. Sie knirschte mit den Zähnen. Warum ging er ihr nur derartig auf die Nerven? Was war an ihm anders als an den übrigen Taugenichtsen, die sie im Lauf der Jahre belästigt hatten?
Sie begrüßte die Dienstboten und folgte Lord und Lady Winchester in die Eingangshalle, Christopher so gut wie möglich ignorierend.
Der dunkle Holzboden war auf Hochglanz poliert und bildete einen wundervollen Kontrast zum cremefarbenen Anstrich und den goldenen Ziergegenständen, die in der Halle verteilt standen. Die breite Treppe am anderen Ende der Eingangshalle bestand aus demselben Holz, den Abschluss des Geländers zierte die Skulptur eines goldfarbenen Knaben, der eine Flöte an die Lippe hielt. Die Stufen selbst bedeckte ein weicher Teppichläufer.
„Miss Drysdale erhält das Rosenzimmer“, wies Lady Winchester eins der Zimmermädchen an. Dieses knickste vor der Lady und dann vor Anna. „Wenn Ihr mir folgen würdet, ich führe Euch auf Euer Zimmer.“
Noch immer hielt Christopher Annas Arm, und sie befreite sich energisch. Froh, dass die Dienerin ein flottes Tempo vorlegte, folgte Anna ihr die Treppen hinauf. Sie gingen den Gang entlang, kamen an einer Reihe Zimmertüren vorbei, ehe das Zimmermädchen stoppte und scheinbar willkürlich eine Tür öffnete.
Sie knickste und ließ Anna eintreten. „Miss, das Rosenzimmer.“
Der Raum war hell und geräumig. Auf dem Bett lag eine mit unzähligen Rosen bestickte Tagesdecke, und dazu passend stand auf der Kommode eine Vase mit Rosen, die das Zimmer mit süßem Duft schwängerten. Ein Diener kam leise herein, stellte die Koffer ab und verschwand diskret.
„Wünscht Ihr Hilfe beim Auspacken, Miss?“
„Nein, danke, ich komme zurecht.“
Das Zimmermädchen knickste und ließ sie allein. Anna legte ihren Hut ab, knöpfte ihren Wollmantel auf und entschied dann, ihr Haar zu lösen. Seufzend massierte sie ihre Kopfhaut und trat an das Fenster, um den Blick hinaus auf die Gartenanlagen zu genießen.
Auf der grünen Rasenfläche beschäftigten sich Lord Winchester und Christopher damit, Tore für ein Kricketspiel aufzustellen. Beide waren hemdsärmelig und offensichtlich gut gelaunt. Zwei attraktive Männer in ausgelassener Stimmung und ihrer Selbst sicher.
Zum ersten Mal registrierte Anna, dass Victor Tilney ein gut aussehender Mann war. Gerade eben lief Christopher über den Rasen, und Anna bewunderte seine geschmeidigen Bewegungen. Christopher überragte Lord Winchester um Haupteslänge, alles an ihm wirkte kontrolliert und entschlossen. Ganz bestimmt würde er jedes Vorhaben zielstrebig verfolgen.
Christopher richtete sich auf und schaute nach oben. Direkt in Annas Gesicht. Erschrocken starrte sie ihn an. Seine ebenmäßigen Züge blieben reglos, doch sein Blick ruhte auf ihr. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Ihre Füße drängten vom Fenster fort, aber sie konnte sich nicht dazu bringen, ihre Augen von Christopher zu lösen. Er verschlang sie mit Blicken, und Anna fühlte sich nackt. Als könne er Schicht um Schicht ihre Kleider und die Mauern aus Konvention und Erziehung und Ängsten niederreißen und auf den Grund ihrer Selbst sehen.
Entsetzt schlug Anna die Hand vor den Mund und trat vom Fenster fort, stolperte zum Bett und ließ sich darauf
Weitere Kostenlose Bücher