Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Baldmöglichst gut zu heiraten. Eine tadellose Ehefrau zu sein. Kinder zu bekommen, und eine lobenswerte Mutter zu werden.
Anna warf sich herum. Schon zu dieser Zeit hatte sie die Vorstellung über ihre Zukunft nicht in Begeisterung versetzt. Aber es wurde von einer wohlerzogenen Tochter erwartet, also waren das ihre Ziele gewesen. Gut zu sein. Anständig zu bleiben. Achtung und Respekt zu verdienen. Und eine gewisse Freiheit innerhalb der gesellschaftlichen Grenzen zu finden. Diese Zwänge hatten ihr schon damals Unwohlsein verursacht, doch es gelang ihr trotzdem, die ihr auferlegte Rolle zu erfüllen. Aber manchmal fühlte sie in sich den unbezähmbaren Drang, etwas vollkommen Verrücktes zu tun. Etwas, das den Rahmen der Gesellschaft sprengte. Und dieses Bedürfnis erfüllte sie mit Furcht.
Sie seufzte. Dann war die Fieberepidemie über London hereingebrochen, und mit dem Tod der Eltern war alles anders geworden. Plötzlich hatte sie Situationen meistern müssen, die fern ihres bisherigen Lebensalltags gewesen waren. Und sie hatte erkannt, wie eingeschränkt sie bisher gelebt hatte. Ein Käfig, auch wenn er golden war, blieb immer noch ein Käfig. Mit einem Mal erahnte sie den Geschmack der Freiheit. In schmal abgesteckten Grenzen zwar, für jemanden wie sie aber bereits unglaublich aufregend. Sie sah die Ehe und Kinder nicht als einziges Lebensziel an. Sie würde für nicht weniger als aus Liebe heiraten. Oder, was sie bevorzugte: nie zu heiraten. Sie konnte nicht verstehen, wie eine Frau die Bevormundung durch die Eltern gegen das Gängelband eines Ehemannes tauschen wollte. Anna schnaubte. Aber um das für sich vollkommen auszuschließen, musste sie erst eine Lösung für ihr Geldproblem finden.
Was ihre Gedanken zu Kit, wieder einmal verbesserte sie sich, zu Christopher führte. Er bot ihr einen Ausweg. Und zugleich den direkten Weg in den gesellschaftlichen Ruin.
Warum stellte sich das Leben als so unfair heraus? Zwischen Pest und Cholera entscheiden zu müssen, war einfach entsetzlich.
Der Duft von Blumen drang durch das offene Fenster, und leise Männerstimmen untermalten das Zwitschern der Vögel, die Anna in den Schlaf wiegten.
Anna erwachte, als das Zimmermädchen an die Tür klopfte. Einen Moment verharrte sie reglos. Sie war erregt, ohne zu wissen weshalb. Als die Benommenheit wich, erinnerte sie sich an den Traum. Von Wollust, die durch ihren Körper tobte wie ein hungriger Drache, und von festen Männerhänden, die sie liebkosten und ihre Lust befriedigten. Die Scham trieb ihr die Hitze in die Wangen.
Ein erneutes zaghaftes Klopfen riss Anna aus ihrer Versunkenheit. Das Zimmermädchen, das sie vorhin in den Raum geführt hatte, trat ein. Sie knickste. „Miss, Lady Winchester schickt mich, um Euch beim Ankleiden für den Tee zu helfen.“
Anna nickte. „Sind bereits weitere Besucher eingetroffen?“
Die junge Frau griff nach der Bürste und begann, Annas Haar sorgsam zu entwirren. „Ja, Miss, der Viscount Sheldon und seine Gemahlin sind angereist.“
Anna beobachtete die konzentrierte Mimik der Zofe im Spiegel. „Wie viele Gäste werden denn erwartet?“
„Soweit mir bekannt ist, der Earl of Pembroke, Lord Thomas Whatley und seine Gemahlin Emily und James Norrin, Marquis of Essex.“ Das Mädchen flocht Annas Haar, ehe sie es aufsteckte. Sie verstummte, da sie ein paar Haarnadeln zwischen die Lippen gepresst hatte, mit denen sie Annas dunkelrote Strähnen befestigte.
„So.“ Sie sah zufrieden auf Annas Hinterkopf und zeigte dieser das Ergebnis ihrer Bemühungen. „Wenn ich das sagen darf, Miss, Ihr besitzt wunderschönes Haar, voll, glänzend und diese Farbe! Eine der Damen, die die Winchesters regelmäßig besuchen, trägt bevorzugt Granatschmuck, Euer Haar ist vom selben Rot!“
Anna freute sich ehrlich über das Kompliment. „Danke. Wie ist dein Name?“
„Colette, Miss.“
„Du bist Französin?“ Anna bewunderte die elegante Hochsteckfrisur, die ihr Colette gezaubert hatte.
„Väterlicherseits. Er war Seemann.“ Colette ging zur Kleiderkammer. „Welches Kleid wollt Ihr beim Nachmittagstee tragen? Der Tee wird im Garten serviert.“
Anna musste nicht lange überlegen. „Das Elfenbeinfarbene.“
„Das mit dem Blumenmuster?“, vergewisserte sich Colette.
Anna nickte. Sie sprühte sich ihr Lavendel-Rosen-Wasser auf Gesicht, Hals und Dekolleté und drehte sich zu Colette um. Sie ließ sich beim Ankleiden helfen und schlüpfte zum Schluss in die hellen Schuhe,
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