Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
sinken.
Victor legte seine Jacke ab und sah Christopher an.
„Und? Hattest du eine gute Reise?“
„Leidlich“, erklärte Christopher. „Mein Leibdiener und die Kutsche müssten bald ankommen.“
„Hast du vor, länger zu bleiben?“
„In England? So lange, bis ich meine Geschäfte unter Dach und Fach gebracht habe. Ich stehe in Verhandlungen mit Charles Peacock, einem Baumwollplantagenbesitzer aus Amerika.“
Victor schlug ein Krickettor in den Rasen. „Peacock, der Baumwollkönig? Meinen Glückwunsch.“
„Danke.“ Christopher rammte ein zweites Krickettor mit Wucht in die Erde. „Jetzt stehe ich vor dem Problem, dass ich auf die Schnelle eine Verlobte finden muss.“
Victor hielt inne und lachte. „Du und heiraten? Ich habe Eleanor kürzlich noch darauf hingewiesen, dass es das Letzte ist, was du tun würdest.“
Christopher sah säuerlich auf. Nicht einmal Victor würde er in sein Vorhaben einweihen, nur so zu tun als ob. Jemand wie er konnte sich nicht vermählen. Und eher wäre er nach Schanghai geschwommen, als sich mit einer Ehefrau zu belasten. Denn entgegen aller Gerüchte, die über ihn kursierten, entsprangen seine Taten nie halbherzigen Angelegenheiten. Heiratete er, dann nur, weil es sein freier Wille war. Und nicht, weil die Gesellschaft es erwartete oder ein bigotter Geschäftspartner mehr Wert auf Ruf und Ansehen seines Kompagnons legte als auf dessen Kaufmannsgeschick. Er seufzte.
„Gibt es denn schon eine glückliche Braut?“
„Ich habe eine junge Dame im Auge.“ Anna schien in jeder Hinsicht perfekt. Ihr guter Ruf eilte ihr in Riesenschritten voraus, und sie befand sich überdies in einer ausweglosen Lage, die sie für seinen skandalösen Vorschlag empfänglich machen sollte. Er hatte noch in London diskrete Erkundigungen eingezogen und erfahren, dass ihre finanzielle Lage mehr als prekär war. Eigentlich müsste sie bereits unter den Fittichen wohltätiger Freunde stehen. Er bewunderte ihre Standhaftigkeit, bezweifelte aber nicht, dass ihre finanzielle Situation sie bald in die Knie zwingen würde. Christopher würde ihr noch dieses Wochenende Zeit geben, über seinen Vorschlag nachzudenken. Dann würde er dafür sorgen, dass sie zustimmte.
„Also wird Mr. Peacock von einem glücklichen Ehepaar Drysdale empfangen?“ Victor wirbelte den Kricketschläger in der Hand herum.
Christophers Nacken kribbelte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde.
Er richtete sich auf und sah zu dem Fenster, hinter dem er den Späher sah. Er erkannte Anna deutlich. Das Sonnenlicht umriss ihre Figur unter dem hellen Stoff, und ihr dunkelrotes Haar umflammte ihren Körper. Eine Locke ringelte sich an ihrer Hüfte.
Ihre blauen Augen waren auf ihn gerichtet, und zum ersten Mal dachte Christopher, sie zu verführen könnte durchaus ein lohnender Zeitvertreib sein. Er fand sie mehr als hübsch. Sie war attraktiv, und er hatte bereits Bekanntschaft mit ihrem Temperament gemacht. Außerdem würde er es genießen, einmal eine Frau unter oder über sich zu haben, die nicht wie ein zerbrechliches Püppchen wirkte. Jähe Lust durchzuckte seinen Körper.
Anna stolperte zurück, verbarg ihren Mund hinter der Hand und verschwand im Zimmer.
Mit einer Spur Enttäuschung wandte Christopher sich ab.
Anna beschloss, Geist und Hände zu beschäftigen, ehe sie sich für ein kleines Nickerchen zurechtmachte. Sie packte ihre Koffer aus und hängte alles in die dafür vorgesehene Kleiderkammer. Aber natürlich half es doch nicht, ihre Gedanken im Zaum zu halten.
Wie Christopher sie angesehen hatte! Sie hatte den Ausdruck genau erkannt, der sich für einen Moment auf seinem Gesicht gespiegelt hatte: Wollust. Ein warmer Schauer überlief Anna. Sie erinnerte sich daran, wie es sich anfühlte, von Lust erfüllt zu sein. Wie das sanfte Beben und Zittern durch den Körper wallte. An die Empfindungen, wenn zärtliche Hände über die nackte Haut strichen. Sie schluckte und zwang ihre Gedanken auf das Gepäck.
Sie kontrollierte das taubengraue Abendkleid. Das gelbe Festkleid und die passenden Schuhe. Sie sortierte die Tageskleider, Nachmittagskleider und das Reitkostüm, ehe sie sich den Accessoires zuwandte.
Schließlich schlüpfte sie aus ihrem Kleid und legte sich auf das Bett. Ein leichter Wind strich über ihre Haut. Anna starrte an die Decke. Ein wenig mehr als ein Jahr war vergangen, seit ihre Eltern gestorben waren. Bis dahin hatte ihr Leben eine vorbestimmte Richtung besessen.
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