Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Während Anna gemütlich in ihrem Sessel lehnte und Tee trank, besah sie den Brief. Erfreut öffnete sie das Siegel, als sie die Schrift als die ihrer Brieffreundin Jane identifizierte.
„Liebste Freundin, es betrübt mich, dass deine Schwierigkeiten noch dieselben sind, und ich frage mich, ob du nicht Ausweg in einer Ehe suchen solltest.“
Anna schnaubte. Ausgerechnet Jane redete vom Heiraten. Die Gute war älter als sie und eine in die Jahre gekommene Jungfer wie Anna. Aber von all ihren Freunden konnte Jane am besten verstehen, wie Anna sich fühlte. Auch Jane war auf das Wohlwollen anderer angewiesen. Und wie Anna legte sie keinen großen Ehrgeiz an den Tag, sich zu vermählen. Was Janes Gründe sein mochten, wusste Anna nicht. Ihre persönlichen Beweggründe kannte Anna nur zu gut. Eine Mischung aus Schuld, Freiheitsliebe und Wissen um den eigenen geringen Wert in der Gesellschaft sowie das Fehlen eines geeigneten Kandidaten verhinderte, dass Anna ernsthaft an eine Verheiratung dachte.
Anna überflog die Zeilen und legte den Brief beiseite. Später würde sie sich auf ihr Zimmer zurückziehen und eine Antwort an Jane verfassen.
Caítlín kam mit funkelnden Augen in das Schlafgemach, wo Anna dabei war, den Brief an ihre Freundin Jane zu verschließen.
„Miss Anna, ein Botenjunge brachte eine Nachricht von Lord und Lady Winchester.“
Annas Herz setzte einen Schlag aus.
„Lord und Lady Winchester?“, echote sie und legte den Brief an Jane auf die Schreibplatte ihres Sekretärs.
Sie starrte auf das Tablett, das Caítlín ihr entgegenhielt. Ein schwerer Brief aus Büttenpapier lag darauf. Schmetterlinge flatterten durch ihren Magen. Allein das Papier kündete bereits von besonderer Botschaft. Anna schluckte und wischte sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab. Sie hasste ihre Aufregung und war froh, dass niemand außer Caítlín sah, wie ihre Finger zitterten, als sie die Nachricht entgegennahm, das Siegel brach und las. Atemlos ließ sie den Brief sinken.
„Sie laden mich ein, das Wochenende mit ihnen auf ihrem Landsitz in Sussex zu verbringen. Und sie nehmen mich in ihrer Kutsche mit.“
Caítlín strahlte. „Wie überaus großzügig und vorausschauend von Lord und Lady Winchester.“
„Allerdings“, bestätigte Anna. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die Einladung annehme.“
Caítlín riss entsetzt die Augen auf. „Warum denn, Miss Anna?“
Anna schüttelte den Kopf. „In meiner Situation ist es nicht angemessen …“
„Papperlapapp“, unterbrach Caítlín sie. „Gerade in Ihrer Lage kann Ihnen nichts Besseres passieren.“ Sie klatschte in die Hände. „Ihre Stellung in der Gesellschaft wird sicherer sein denn je.“
Anna stieß einen Seufzer aus tiefster Seele aus. Caítlín hatte recht, sie sollte die Einladung unter allen Umständen annehmen. Momentan gab es keine Auszeichnung, die ihr das Wohlwollen der Londoner High Society besser sichern könnte, als in den Dunstkreis der Winchesters geladen zu werden.
Sie griff nach Papier und Federhalter. „Ich werde ihnen eine Antwort schreiben. Wenn du zurückgekehrt bist, Caítlín, werden wir mit den Reisevorbereitungen beginnen.“
„Sehr wohl, Miss!“ Die Haushälterin grinste breit.
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Kapitel 3
Achte auf deine Gedanken! Sie sind der Anfang deiner Taten.
Aus China
Die Kutsche rumpelte über den Feldweg. Bisher verlief die Reise angenehm. Sie hielten zur Mittagszeit an einem netten Landgasthof und bekamen in einem Nebenraum den Lunch serviert. Danach unternahmen sie einen kleinen Spaziergang und stiegen anschließend in die Equipage, um ihre Fahrt fortzusetzen.
Lord Winchester erwies sich als charmanter Gesprächspartner, der Anna, seine Frau Eleanor und deren Zofe aufs Beste zu unterhalten verstand. Als sie London hinter sich gelassen hatten, wurde die Landschaft grün und weit. Immer wieder kamen sie an bescheidenen Dörfchen und Städten vorüber. Einige Orte stellten sich als kleine Schmuckstücke heraus, die zum Verweilen einluden. Andere hingegen erwiesen sich als verwahrloste, ärmliche Besiedlungen, die Anna ins Herz stachen.
Bei einer Gelegenheit beugte Eleanor sich vor und tätschelte Annas Hand. „So ist es nun mal auf der Welt. Nicht jeder hat ein gutes Auskommen.“
Anna blinzelte. „Ich glaube nicht, dass es verkehrt wäre, wenn alle Menschen frei wären und die gleichen Chancen hätten.“ Sie reckte ihr Kinn vor.
Victor Tilney lächelte. „Wir haben offenbar eine Whig
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