Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
geb’n.“ Er setzte eine sture Miene auf.
Anna gab sich geschlagen. Sie wusste, wann sie einen Kampf nicht gewinnen konnte, und der Mann hätte bestimmt keinen derart schmutzigen Beruf ergriffen, wenn er auf das Geld verzichten könnte.
„Wäre es Ihnen möglich, morgen wieder zu kommen?“
„Werd’n Se da das Geld hab’n?“
Anna nickte.
„Dann werd’ ich morg’n zur Mittagszeit wieder hier aufmarschier’n“, stimmte der Kohlenmann zu. Er setzte seine Kappe auf, tippte zum Gruß an die Krempe und verschwand durch den Dienstbotenausgang.
Caítlín sah besorgt drein.
„Mach dir keine Gedanken, Caítlín. Morgen werde ich genug Geld haben für die Kohle.“
Die Sorgenfalten auf der Stirn der jungen Frau vertieften sich, und Anna wusste, was sie dachte: Was wäre übermorgen? Und am Tag darauf?
Anna ging an dem Juwelierladen vorbei, in dem sie die Perlenkette ihrer Mutter verkaufen wollte. Ihr Herz schlug bis zu ihrem Hals hinauf, und der Nachhall vibrierte in ihrem Kehlkopf. Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Lage sein würde, überhaupt ein Wort herauszubringen, falls sie dort hineinginge. Und ob sie fähig war, einen vernünftigen Preis einzufordern.
Sie erreichte die Straßenecke und nahm verstohlen einen tiefen Atemzug. Jetzt! Sie machte kehrt und steuerte das Ladengeschäft an, um hineinzugehen und den bestmöglichen Preis für Mutters Perlen zu verlangen!
„Miss Drysdale!“, flötete eine hohe Stimme. „Miss Drysdale! Welch eine Überraschung, Euch zu sehen! Seid Ihr wieder wohlauf?“
Welcher Gott hasste sie so sehr, dass er ihr nicht einmal Kohlen für den Winter gönnte? Anna zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht und drehte sich zu der Sprecherin um.
„Lady Suffolk, wie schön, Euch hier zu begegnen!“
Die Marchioness war in Begleitung ihrer Gesellschaftsdame, einer dürren, schwarzgekleideten Frau, die Anna kritisch beäugte.
Sie zweifelte nicht, dass ihr Auftreten später aufs Genaueste analysiert und beurteilt werden würde, und bemühte sich um eine tadellose Haltung und einen ebenso perfekten Knicks.
„Ich begegnete gestern Evelyn“, erklärte Lady Suffolk und verbesserte sich sofort: „Dowager Beddingford. Sie erzählte mir, dass Ihr unpässlich seid.“
„Nur eine leichteErkältung. Nach ein paar Tagen Ruhe bin ich nun wieder wohlauf, Mylady.“
Lady Suffolk tätschelte Annas Hand. „Wie schön, meine Liebe.“
Anna lächelte und unterdrückte ihre Ungeduld. Es war schwierig genug, sich dazu durchzuringen, eine liebe Erinnerung an ihre Mutter zu Geld machen zu müssen. Die Schmach, dabei beobachtet zu werden, war jedoch ungleich größer. Die Marchioness würde sofort jedem erzählen, dass Anna ihren Schmuck versetzt hatte.
Sie warf einen verzweifelten Blick auf das Juweliergeschäft und übersah das Paar, das die Straßenseite entlangflanierte.
Lady Suffolk folgte Annas Blickrichtung und fehlinterpretierte ihre Aufmerksamkeit.
„Ach, Ihr habt Lord und Lady Whatley entdeckt!“ Sie wurde von Emily Whatley bemerkt und erwiderte deren Gruß. Das Ehepaar betrat den von Anna so sehnsüchtig fixierten Schmuckladen.
„Lord Whatley will seiner Gemahlin ein Geschmeide kaufen.“ Die Stimme der Marchioness klang nachdenklich. „Er ist ganz vernarrt in Emily. Ich habe mich immer gefragt, warum sie ihn und nicht James Norrin wählte.“
Anna, die alles wollte, nur nicht über Emily Whatley und deren Männer reden, konnte nicht verhindern, dass sie Lady Suffolk überrascht anstarrte. Diese lächelte milde. „Wusstet Ihr das nicht? Wir dachten, Emily würde den Marquis of Essex ehelichen. Stattdessen nahm sie den Antrag seines besten Freundes, Lord Whatley, an.“ Lady Suffolk schüttelte den Kopf. „Nichtsdestotrotz, Lady Emily ist eine reizende Person. Vielleicht ein wenig zu frivol, aber dennoch eine Zierde der Gesellschaft.“
Für Anna war das der reinste Hohn, ein Schlag in die Magengrube.
Sie selbst, ein Ausbund an Anstand und gutem Benehmen, der nicht einmal wagte, bei Tageslicht den eigenen Schmuck zu verkaufen aus Furcht um ihren guten Ruf, musste sich anhören, wie eine Frau, die sich schamlos zwei Männern gleichzeitig hingab, als Zierde der Gesellschaft bezeichnet wurde. Selbst wenn es niemand wusste, so etwas tat man einfach nicht! Und das eine solche Person respektiert und geachtet wurde, während sie selbst sich alles versagte, was dem ton missfallen konnte, machte sie mit einem Mal zornig.
Anna schluckte ihre Wut hinunter, lächelte
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