Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Ehe vollzogen haben.“
Anna starrte auf das Bett, und Christopher wusste, was sie dachte.
„Keine Sorge, ich veranlasse alles Nötige und bezahle Zeugen, die glaubhaft versichern werden, dass unsere Ehe zu keinem Zeitpunkt vollzogen wurde.“
Sie stieß einen unbestimmten Laut aus. „Zur Not lasse ich dich einfach sterben. Als Witwe bin ich über jeden Tratsch erhaben.“
Die Idee war ihr spontan durch den Kopf geschossen, und als sie länger darüber nachdachte, hielt sie den Gedanken für die beste Eingebung, die sie je hatte.
„Natürlich“, entgegnete Christopher trocken. „Vielleicht war ich in Wirklichkeit mein Zwillingsbruder.“
Anna durchzuckte freudige Begeisterung. „Ein Zwilling? Tatsächlich?“
Es klopfte, und die chinesische Dienerin trat ein und reichte Christopher mit einer Verbeugung einen Stapel Kleider.
„Nein, leider nicht.“ Christopher zog eine Braue spöttisch hoch. „Von meiner Sorte ist einer genug.“
Anna versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Christopher reichte Anna die Kleider. Das Bündel enthielt weiche, wattierte Seidenpantoffeln, ähnlich denen, die Christophers Dienerin trug, und ein langes chinesisches Gewand aus zartgrüner Seide, mit aufgestickten weißen Lilien und passenden weißen Knöpfen an der Vorderseite.
Anna schlüpfte in das Kleid und fingerte ungeschickt an den Verschlüssen herum.
„Lass mich das machen!“ Christopher eilte ihr zur Hilfe.
Er richtete seine Aufmerksamkeit stur auf die Knöpfe und gab Anna Gelegenheit, ihn eingehend und aus der Nähe zu betrachten.
Sein Haar war wie fast immer zu einem bis auf die Mitte seines Rückens reichenden Zopf geflochten. Über den leicht schrägstehenden Augen wölbten sich schwarze Brauen wie kühne Tuschestriche, und als er sich ein wenig vorbeugte, entdeckte sie einen kleinen Leberfleck an seiner Schläfe.
Sein Haar verströmte den Duft von Sandelholz, und mit einem Mal bedauerte es Anna, dass sie seine Liebkosungen vorher so rüde abgebrochen hatte.
„Um noch einmal auf die Problematik der Eheannullierung zurückzukommen“, begann Anna, um sich abzulenken.
Christopher schüttelte den Kopf und trat zurück. „Fertig.“ Er musterte sie spöttisch. „Ich fürchte, du wirst dich mit einer ordinären Annullierung oder einer Scheidung zufriedengeben müssen. Wenn du willst, gebe ich dir als Entschädigung für deinen ruinierten Ruf ausreichend Geld, um dies den ton vergessen zu machen.“ Er verschränkte seine Arme hinter dem Rücken. „Glaub mir, mit Gold und Silber kann man alles ungeschehen machen.“
„Für dich ist jeder und alles käuflich.“ Anna zog die Nase kraus. „Lass dir gesagt sein: Es gibt Menschen, auf die das nicht zutrifft.“
„Jeder ist käuflich. Wenn der Betrag hoch genug ist.“
Anna schüttelte den Kopf und seufzte. „Hast du Papier und Federhalter für mich? Ich möchte Caítlín, meiner Haushälterin, eine Nachricht schreiben. Vielleicht glaubt sie Long Tian nicht, dass mit mir alles in Ordnung ist.“
Christopher öffnete die Tür und ließ Anna den Vortritt. „Im Arbeitszimmer wirst du alles Notwendige finden.“
Er führte sie über die Treppen hinunter und brachte sie in einen großen Raum, der Bibliothek, Arbeitszimmer und Herrensalon in einem zu sein schien. Die Möbel bestanden aus schwarzbraunem Holz. Der Stuhl vor dem Schreibtisch sowie der Sessel am offenen Kamin waren mit weißem Leder gepolstert, und an der Wand hingen große Gemälde mit asiatischen Landschaften. Die Bücherregale standen voller ledergebundener Folianten und Bücher, alte und neue bunt gemischt. Nur gelegentlich wurde die Fülle durch Lücken aufgelockert, in denen Miniaturfigürchen aus Porzellan oder silberner Nippes aufgereiht waren.
Christopher trat an den Schreibtisch und schob den Stuhl zurück.
„Meine Liebe?“
Anna folgte der Aufforderung, und Christopher rückte ihr den Stuhl zurecht.
„Ich werde dich in Ruhe deine Nachricht aufsetzen lassen. Long Tian wird später kommen und den Brief holen.“
Geräuschlos verließ Christopher den Raum. Anna lehnte sich zurück und genoss für einen Moment die Einsamkeit, die ihr nun Zeit gab, über die Geschehnisse der letzten Stunden nachzudenken.
Sie rieb sich die Stirn. War es wirklich erst ein paar Stunden her, dass sich ihr Leben so gewandelt hatte? Unschuldig und jungfräulich war sie davor auch nicht gewesen, aber jetzt verwandelte sie sich prompt in eine Maria Magdalena.
Und es gab kein Zurück mehr.
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