Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
setzte sich neben sie und nahm einen Schluck aus seinem eigenen Glas. Er sah sie mit seltsamem Gesichtsausdruck an.
„Was ist los?“
Er schüttelte stumm den Kopf und schien seine Aufmerksamkeit den Tanzenden vor sich zu schenken.
Anna beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte in sein Ohr: „Ich konnte zwei Damen belauschen. Alle halten uns für sehr verliebt.“
Christopher nickte, ohne sie anzusehen. Anna betrachtete ihn aufmerksam. Sein schwarzes Haar hatte Long Tian geschickt frisiert, sodass die wahre Länge nicht zu erkennen war. Christophers klassisches Profil wirkte nicht annähernd so asiatisch, wie man hätte meinen sollen. Seine Augenform erinnerte nur entfernt an die schrägen Augen einer Katze, und die hohen Wangenknochen und die dunklere Haut stachen kaum aus der Menge hervor.
Was ihn besonders machte, war seine Ausstrahlung, sein Charisma. Man sah in ihm auf Anhieb einen gut aussehenden Mann, doch attraktiv machten ihn erst die innere Stärke, seine Entschlossenheit, seine Intelligenz und die Wärme in seinem Blick. Im Moment wirkte er gefangen in der Betrachtung der Tänzer, doch Anna fühlte, dass er beunruhigt war.
Sie legte ihre Hand auf die seine, und er sah überrascht zu ihr.
„Ist alles in Ordnung?“
Christopher musterte ihre Hand, und es dauerte einen Moment, ehe er seine Aufmerksamkeit auf Annas Gesicht lenkte. „Alles bestens“, entgegnete er.
Sie glaubte ihm nicht, kannte ihn inzwischen aber gut genug, um zu wissen, dass er seine Gedanken für sich behalten würde.
„Hast du in China eigentlich noch Familie?“ Anna schlug einen unverfänglichen Plauderton an, einerseits um ihre Neugier zu verbergen, andererseits um Christopher abzulenken.
Christopher lächelte sardonisch. „Die kaiserliche Familie?“, schlug er vor.
Anna gab ihm einen Klaps. „Sei nicht albern, das ist doch nur ein Gerücht.“
Er neigte seinen Kopf. „Aber um so vieles schöner als die Wahrheit!“
Anna lehnte sich auf dem Polster der Kutsche zurück und betrachtete Christopher müde.
„Hat es dir Spaß gemacht?“, fragte er sie.
Anna lächelte. „Die Bälle der Huntingtons sind stets wundervoll!“
Christopher nickte zufrieden. „Du hast dich wie die perfekte Gemahlin benommen, vielen Dank.“
Anna fühlte sich ernüchtert. Für eine Weile hatte sie den Handel vollkommen vergessen. Sie neigte ihren Kopf.
Christopher lehnte sich zurück und starrte Anna an. „Du hast mich nach meiner chinesischen Familie gefragt.“ Er wirkte kühl und überlegt, doch Anna konnte die Unruhe fühlen, die unter dieser Maske lag. „Interessiert es dich wirklich? Willst du die Wahrheit wissen, weshalb mein werter Halbbruder so von Abscheu erfüllt war?“
Anna verzichtete darauf, Christophers Behauptung zu widerlegen und sah ihn nur neugierig an.
„Meine Mutter war eine Angestellte im Hause der ‚Goldenen Lampions’. Ein kleines Bordell, in dem auch Ausländer bedient wurden. Warum auch immer, statt mich zu behalten, legte sie mich Vater kurz nach der Geburt vor die Tür.“ Er erzählte das in neutralem Ton, und nur die Schatten, die in seinen Augen aufstiegen, zeigten seine wahren Gefühle.
Anna schluckte und nickte.
Christopher griff nach ihrem Arm. „Und? Was denkst du jetzt?“
Alle Puzzleteilchen fügten sich für sie zusammen. Warum er so distanziert und doch so leidenschaftlich sein konnte. Weshalb er dem Lager der Whigs angehörte. Weshalb er den ton für seine Doppelmoral verachtete.
Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung.
„Dass dein Vater dich vom ersten Moment an geliebt haben muss“, erwiderte sie sanft.
Er lockerte seinen Griff. „Mag sein.“ Er wirkte verwirrt.
Anna streichelte seine Hand. „Gewiss liebte er dich.“
Anna erwachte in der Nacht von lachenden Stimmen. Gläser klirrten, und jemand sang. Verwirrt starrte Anna an die Decke. Es klang, als hätte Christopher Besuch. Weiblichen Besuch. Anna lauschte angestrengt. In ihrem Magen blubberte die Eifersucht wie Säure. Natürlich konnte sie keinen Besitzansprüche an Christopher stellen, doch sie erwartete genug Diskretion, sich seine Gespielinnen nicht ins Haus einzuladen.
Eine Weile blieb sie liegen. Die Geräusche schienen sich in ihre Gehörgänge zu fressen, und sie kämpfte gegen Neugier, Wut und Eifersucht. Schließlich sprang sie auf, zog sich den Morgenmantel über und verließ ihr Schlafgemach.
Im Flur war es dunkel. Barfuß tapste Anna den Gang entlang, vorsichtig, um nicht zu stolpern und vor
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