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Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie

Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie

Titel: Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivy Paul
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allem, um ungesehen den Stimmen nachgehen zu können. Sie erreichte den Empfangssalon. Durch den Türspalt fiel Licht. Die Stimmen waren deutlich zu vernehmen. Es mussten mindestens fünf Frauen im Raum sein.
    Stirnrunzelnd linste Anna durch den Schlitz und erkannte, dass ihre Einschätzung richtig gewesen war. Die Herkunft der Anwesenden war jedoch mehr als eine Überraschung.
    Die Gestalten, die sich auf den Sofas und dem Boden tummelten, aus eleganten Gläsern Wein und Whisky tranken und sich um Christopher scharten, würden von den meisten Mitgliedern des ton nicht einmal in die Nähe ihrer Häuser gelassen werden, geschweige denn eingeladen. Es waren leichte Mädchen aus dem Londoner East End. Ausgemergelte, grell geschminkte Frauen in schmutzigen Kleidern. Jede von ihnen war von dem elenden Leben in den Slums gezeichnet.
    Eine vollbusige Rothaarige saß auf Christophers Schoß und streichelte seine Brust.
    „Mein Hübscher, was kann Lizzie für dich tun?“, gurrte sie mit einer rauchigen Stimme. Eins ihrer Augenlider hing herab, und unter dem Rouge wirkte ihre Haut kalkweiß. Ihre Hand glitt nach unten und schlüpfte in seine Hose. „Dir mache ichs umsonst.“
    Unbeeindruckt zog Christopher ihre Hand heraus.
    Eine zweite Prostituierte kroch heran und streichelte seine Füße, strich dann langsam seine Unterschenkel empor. Träge berührte Christopher die Kette, die die Frau, die sich Lizzie nannte, trug.
    „Ein schöner Schmuck, wo hast du ihn her, Lizzie?“
    Ihre Hand flog an ihr Dekolleté. „Ein Familienerbstück“, erklärte sie.
    Christopher liebkoste ihre Wange. „Hübsch! Ich besaß einst ein Medaillon ähnlich deinem.“ Seine Hand glitt wie nebenbei ihren Hals entlang, hinunter zur Brust, die er ausgiebig und mit größtem Interesse streichelte.
    Lizzie schmiegte sich an ihn und genoss seine Berührungen sichtlich.
    „Was wurde aus dem Schmuckstück?“, fragte die Frau zu Christophers Füßen.
    Christopher sah zu ihr, als bemerke er sie erst jetzt, und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
    „Dein Name ist Fiona, nicht wahr?“
    Die Blondine nickte.
    „Ich habe es einer Freundin geliehen.“ Er strich Fiona über die faltige Wange und musterte sie, als sei sie eine reizvolle Schönheit. „Vielleicht kennt ihr sie? Ihr Name ist Margret.“
    Anna hatte genug gesehen. Mit einer Mischung aus Ekel und Entsetzen, aber auch Verwunderung, eilte sie in ihr Zimmer zurück und versperrte die Türen. Sie kauerte sich auf ihr Bett und starrte ins Leere.
    Weshalb holte sich Christopher eine ganze Gruppe billigster Straßendirnen, wo er doch sie hatte? Das beißende Gefühl, das in ihr aufstieg, brannte in ihrer Kehle. Wie konnte er ihr das nur antun? Weshalb besuchte er nicht eines der so beliebten Etablissements für feine Herren? Eine der Lasterhöhlen, in die angeblich kein Mann ging, die aber dennoch wie Pilze aus dem Boden schossen? Warum demütigte Christopher Anna, indem er diese Schabracken in sein Haus brachte?
     
    Anna verließ das Waisenhaus spätnachmittags. Sie lächelte zufrieden, denn sie war sicher, den Kindern einen schönen Tag bereitet zu haben.
    Das Haus in der Mayfair Street hatte sie nach einer unruhigen, kurzen Nacht verlassen, lange bevor Christopher erwachte. Sie hätte es nicht ertragen, ihm beim Frühstück gegenübersitzen zu müssen. Stattdessen hatte sie mit den Waisenkindern gefrühstückt, mit den Kleinsten gespielt und den Größeren vorgelesen. Wie ein Schwamm hatte sie die Freude und Dankbarkeit der Kinder aufgesogen und ihren eigenen Kummer vergessen.
    Sie war versunken in den Gedanken, ob sie ihren Status als angebliche Gemahlin Christophers nicht ausnutzen sollte, um den Waisen mehr Hilfe zukommen zu lassen. Erst am Droschkenstand merkte sie, dass weit und breit keine Mietkutsche zu sehen war.
    Nervös sah Anna sich um. Die Gegend war trostlos. Rußgeschwärzte Fassaden, schnörkellose Gebäude. Natürlich lag das Waisenhaus in einem der weniger privilegierten Gebiete Londons. Und auch wenn Verbrechen nicht an der Tagesordnung waren, so war es nicht ratsam, allein hier herumzulaufen. Vor allem nicht als Frau. Ganz besonders nicht als Angehörige des ton . Herumstehen kam nicht infrage, also entschied sie sich für die Rückkehr zu den Kindern im Waisenhaus.
    „Hey Miss, wohin so eilig?“ Eine schmutzige Gestalt löste sich aus dem Schatten einer dunklen Seitengasse. Ihm folgten zwei weitere Männer, einer der beiden grinste und entblößte dabei eine Reihe

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