Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
„Du wirst ihn mir doch nicht wieder über meine Kleidung kippen?“
Sie fühlte Röte in ihre Wangen steigen. „Ich ziehe es vor, den Tee zu trinken.“
Christophers Mundwinkel zuckten. „Das erleichtert mich.“
Als er den Salon betrat und Anna gedankenverloren am Fenster stehend vorfand, verschlug es ihm im ersten Moment die Sprache.
Vielleicht auch, weil alles Blut aus seinem Gehirn in tiefere Gefilde floss.
Sie trug ein leichtes weißes Gewand, das ihren Körper lose umspielte. Die Raffungen an der Brust und die Schärpe darunter brachten ihren Busen vorteilhaft zur Geltung. Die einzelnen Haarsträhnen, die sich um Gesicht und im Nacken lockten, luden förmlich dazu ein, damit zu spielen und die zarte Haut zu liebkosen.
Als sie ihren Tee tranken, hatte Christopher sein Begehren unter Kontrolle. Er bemerkte Annas Unsicherheit und konnte nicht widerstehen, sie aufzuziehen.
„Das war seinerzeit nur …“ Sie schüttelte den Kopf. „Du löst in mir Eigenschaften aus, die mir bis dahin völlig unbekannt waren.“
Der Unterteller klirrte, als Christopher seine Tasse abstellte. „Ich kann nichts hervorrufen, was nicht schon in dir liegt.“ Er griff nach ihrer Hand und streichelte sie mit dem Daumen.
Anna sah ihn stirnrunzelnd an.
„Willst du behaupten, ich sei unbeherrscht und jähzornig?“
Christophers Erinnerung ließ jäh Bilder einer nackten, wilden Anna vor seinem Auge aufsteigen. Er schluckte.
„Leidenschaftlich, zügellos, das trifft es eher.“ Sein Blick wanderte zu ihrem Busen, dann zwang er seine Aufmerksamkeit in ihr Gesicht zurück. „Du hattest diese Gefühle nur unterdrückt. Dir wurde ein Korsett angelegt und deine wunderbare, lebendige Art abgeschnürt.“
Anna zog eine Augenbraue hoch. „Und du hast mich befreit?“
Er hob ihre Hand an seine Lippen. „Nein, das hast du selbst vollbracht. Ich gab nur einen Stoß in die richtige Richtung.“
Anna gab einen unbestimmten Laut von sich und wechselte das Thema.
„Was hast du heute gemacht?“ Seichtes Geplauder gäbe ihr gewiss ein wenig Selbstsicherheit zurück.
Christopher zuckte mit den Schultern. „Buchhaltung“, erklärte er knapp.
„Laufen deine Geschäfte denn gut?“
Christopher warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Ja“, entgegnete er nachdenklich.
Seine Reaktion verwirrte Anna. „Darf ich dir diese Fragen nicht stellen?“
„Es ist in Ordnung“, gab er zurück. „Ich bin nur nicht daran gewöhnt, dass Frauen sich für meine Geschäfte interessieren.“
„Mutter unterhielt sich mit meinem Stiefvater immer über seine Arbeit.“
„Mit Ernest?“, vergewisserte sich Christopher.
„Natürlich mit Ernest.“
Christopher lehnte sich staunend zurück. „Ich habe den alten Sauertopf falsch eingeschätzt. Ich hielt ihn für extrem konservativ.“
„Nun, er glaubte, du wärst ein zügelloser Dandy, der nur vordergründig einem Kaufmannsgewerbe nachgeht.“
„Wir waren wohl beide rechte Sturköpfe.“
Anna schmunzelte. „Ihr wart Brüder.“
„Würdest du mich ins Lagerhaus begleiten wollen?“, fragte Christopher plötzlich.
„Wo deine Handelswaren lagern?“
„Ja, ich möchte mich noch einmal umsehen, ehe die Stoffe ausgeliefert werden.“
Begeistert nickte Anna.
Christopher erhob sich. „Dann mach dich ausgehbereit!“
Die Kutsche rüttelte Anna durch. Bei jedem Auf und Ab hüpfte ihr Magen mit, und sie war froh, nur den Tee getrunken zu haben.
Entschuldigend sah Christopher zu ihr. „Das hier ist nicht die feinste Gegend.“
Anna schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Gedanken.“ Sie grinste verschmitzt. „Du kennst mich doch.“
Christopher Augen weiteten sich. „Ist das ein Angebot zur Wiederholung unseres ersten Kutschenabenteuers?“ Er schmunzelte.
Anna wurde rot. Ihr Herz schlug wie wild. Sie befeuchtete ihre Lippen.
Die Droschke verringerte das Tempo.
„Du hast Glück. Wir sind da.“
Christopher stieg aus, noch ehe der Kutscher den Schemel bereitgestellt hatte. Sportlich hüpfte er hinaus und hob Anna aus der Equipage. Vor ihnen lagen mehrere große Lagerhäuser. Riesige Tore versperrten die Zugänge einiger Gebäude.
Christopher steuerte einen offenen Eingang an. Eine Wache grüßte sie beide dienstbeflissen und ließ Christopher und Anna eintreten. Im Innern roch es muffig.
Ein junger Mann mit Brille und tintenbefleckten Fingern kam ihnen entgegen.
„Sir, Mr. Drysdale, Entschuldigung, ich meine Lord Munthorpe, was für eine
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