Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
nach oben und klopfte an Annas Zimmertür. Als sich nichts tat, hämmerte er dagegen. „Anna? Ist alles in Ordnung?“
Long Tian erschien hinter ihm.
„Wo ist Caítlín, Annas Zofe?“
Der chinesische Diener zuckte mit den Schultern und überlegte. „Sie war nicht beim Mittagessen.“
Christopher fuhr herum. Wut und Sorge kämpften um die Vorherrschaft. „Und ihr befandet es nicht für nötig, euch zu vergewissern, dass die beiden wohlauf sind?“
Sein erster Gedanke war, dass die Frauen entführt worden waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass Frauen aus reichen Familien gekidnappt wurden.
Er unterdrückte einen Fluch.
„Hol Werkzeug, wir müssen in das Zimmer gelangen!“
Christopher lief in sein eigenes Schlafgemach. Als er die Verbindungstür zu öffnen versuchte, stieß er auf Widerstand.
Natürlich hatte Anna die Kommode noch nicht beiseitegeräumt.
Er drückte sich dagegen. Es erforderte seine gesamte Kraft, das Möbelstück mit der Tür zu verschieben.
„Anna? Bist du da?“
Aus dem Nebenraum war kein Laut zu vernehmen.
Christopher nahm Anlauf und warf sich mit seiner gesamten Körperkraft gegen die Holztür. Das Holz ächzte beim Aufprall, und mit einem Quietschen und Poltern schob sich die Tür auf. Die Öffnung war noch nicht breit genug, dass Christopher hindurchschlüpfen konnte, doch ein Drittel des Raumes überblickte er, und der Rest des Zimmers war durch den Spiegel am Schminktisch zu sehen. Das Schlafgemach war leer. Dennoch stemmte sich Christopher gegen die Tür, bis er sich durch den Spalt in das Zimmer zwängen konnte.
Im selben Moment wurde die andere Tür geöffnet, und Long Tian stand im Türrahmen. In der Hand hielt er die Werkzeuge, mit denen er den Eingang aufgebrochen hatte.
Der Chinese ließ die Hände sinken.
„Die beiden sind nicht hier“, stellte er neutral fest.
Christopher wandte sich seinem langjährigen Freund und Diener zu. „Nein, sie sind weg.“
Eiseskälte erfüllte sein Innerstes.
Alles, was Anna noch empfand, war Müdigkeit. Nie zuvor in ihrem Leben war sie von einer derartigen Erschöpfung heimgesucht worden. Sogar für Tränen fehlte ihr die Kraft. Ihr Innerstes war leer und wund, und sie wollte nur noch ins Bett und schlafen, bis alles vorüber war.
„Miss Anna, was geschieht nun?“ Caítlín musterte Anna besorgt.
Anna rieb sich ihre Stirn und stellte ihre Tasche auf den Boden neben ihrem Ankleideraum. Sie blickte sich einen Moment um, und zum ersten Mal nahm sie wahr, wie klein und bescheiden ihr Schlafgemach war.
„Ich bin vollkommen erschöpft, Caítlín. Ich werde mir morgen Gedanken darüber machen.“
Die Irin wandte sich kopfschüttelnd ab.
„Lass das Gepäck stehen. Ich möchte nur noch schlafen. Du kannst ein anderes Mal auspacken.“
Caítlín verließ das Zimmer, und Anna ließ sich auf ihr Bett fallen.
Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihr Kleid auszuziehen. Sie zog die Bettdecke über sich und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Als Anna wieder erwachte, ging die Sonne gerade auf. Orangefarbene Lichtstreifen tanzten durch das Zimmer und schenkten dem bescheiden eingerichteten Raum ein wenig Glamour. Anna seufzte, drehte sich noch einmal um und starrte aus dem Fenster. Der blaue Himmel verhieß einen herrlichen Morgen.
Ein Baumwipfel war zu sehen, und selbst die Blätter strahlten in klarem Grün. Derartige Farbenpracht zum Morgengrauen, das nur der Beginn eines grauenvollen Tages sein konnte, weckte in Anna das Gefühl, vom Schicksal verhöhnt zu werden. Fehlte nur noch, dass Caítlín fröhlich singend in ihr Schlafgemach eindrang, überlegte Anna düster.
Doch nichts geschah, und so erhob sich Anna erleichtert.
Sie entkleidete sich und legte ihr Kostüm sowie die Leibwäsche sorgsam auf das Bett. Barfuß schritt sie zum Waschtisch und goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel, nahm einen Lappen und begann, sich von oben nach unten zu waschen. Ihre Seife war unparfümiert, und weil ihr der Sinn nach Duft stand, sprühte sie sich großzügig mit ihrem Eau de Cologne ein.
Sie zog sich an, und als Caítlín ihr Zimmer betrat, war Anna gerade dabei, die letzten Haarnadeln in ihrer Frisur zu befestigen.
„Miss Anna, Ihr seid ja schon fertig!“
„Natürlich, Caítlín, ich habe heute einen geschäftigen Tag vor mir“, erklärte Anna.
Sie würde sich die Zeitungen besorgen und Arbeit suchen. Nie wieder würde sie sich abhängig von einem anderen Menschen machen! Vielleicht fände sie sogar
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