Tigermilch
ist schneller, er holt ein riesiges kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche, eins, das eigentlich nur alte Männer mit sich rumtragen.
Nicht weinen, sagt er und hält es mir hin.
Ich putze mir die Nase. Keine Ahnung, ob es an dem Großvatertaschentuch liegt oder was, aber noch nie in meinem Leben habe ich mir so laut die Nase geputzt, wie die alten Männer, die im Park sitzen und sich schnäuzen, höre ich mich an, fehlt nur noch, dass ich mir das eine Nasenloch zuhalte und Popel auf den Gehweg schleudere. Seit ich denken kann, haben Jameelah und ich versucht, Amir zu beschützen, vor den Jungs, die seinen Ranzen in die Pfützen geschmissen und gesagt haben, wozu die Bücher, wozu die Hefte, du kannst doch eh nicht lesen, du kannst doch eh nicht schreiben, vor den Mädchen, die ihm geschüttelte Sprudelflaschen ins Gesicht gehalten und du stinkst, wasch dich mal geschrien haben, vor Tarik, der ihm auf den Hinterkopf geschlagen und gesagt hat, hör endlich auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen, aber jetzt, da merke ich, Amir ist überhaupt nicht klein, er ist gar nicht kleiner als wir, er ist genauso groß, vielleicht sogar größer, viel größer, viel erwachsener, viel älter als wir alle zusammen. Ich hatte nie einen Großvater, aber so stelle ich ihn mir vor, wie Amir, der mir sein Taschentuch hinhält und sagt, nicht weinen, so als wäre er von heute auf morgen einfach mal 50 Jahre älter geworden. Vielleicht ist das ja so, vielleicht sind wir alle auf einen Schlag ganz alt geworden. Ob das sein kann, frage ich mich, ob es sein kann, dass es nicht die Zeit ist, die vergeht und uns nebenbei alt macht, sondern die Dinge, die uns zustoßen, die, die uns verzweifeln lassen, die wir aber durch uns hindurchlassen müssen, ob wir wollen oder nicht, weil sie einfach größer und stärker sind als wir, weil das Leben immer größer und stärker ist als man selber, dass es diese Dinge sind, die uns wirklich älter machen.
Ich wollte nicht, dass sie stirbt, das müsst ihr mir glauben, sagt Amir, das müsst ihr mir glauben, dass ich nicht wollte, dass sie stirbt.
Ich schiebe ihm das Taschentuch hin.
Wir glauben dir, sage ich und schaue zu Jameelah.
Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, sie schaut auf die Spitzen ihrer Chucks, schaut zu Amir, zu mir, zum Fenster und dann wieder zu Amir.
Natürlich glauben wir dir, sonst wären wir ja nicht hier, sagt sie und greift nach Amirs Hand.
Langsam schiebe ich meine Hand auf den Tisch, ich lege meine Hand auf Amirs und Jameelahs Hände, Amir legt seine Hand auf meine, dann wieder Jameelah und wieder ich, Amir lächelt, er zieht seine Hand von unten raus, haut sie oben auf den Händeberg, Jameelah, ich, Amir, Jameelah, ich, Amir, so wie früher, lebender Hamburgerhändeberg, einer für alle, alle für einen hat Jameelah immer gesagt, aus einem Buch hatte sie das, aber jetzt, denke ich, jetzt ist nichts mehr wie in einem Buch, jetzt ist nichts mehr, wie es einmal war, da können wir so viel mit unseren Händen machen, wie wir wollen.
Der in Uniform räuspert sich laut.
Die Zeit ist um.
Alter, hau rein, sagt Nico und hält Amir seine Hand hin, und denk drüber nach, denk noch mal in Ruhe über alles nach.
Salam, Bruder, sagt Jameelah.
Bis bald, sage ich.
Bis bald, sagt Amir und hält mir das Taschentuch hin, hier, schenk ich dir, das kannst du waschen und immer wieder benutzen. Gut, was? Die haben jede Menge davon hier.
Danke, sage ich und stecke das Taschentuch ein.
Hast du den Karton noch, flüstert Amir, als Nico und Jameelah schon an der Tür stehen.
Klar, was denkst du denn?
Schmeiß ihn weg.
Warum?
Schmeiß ihn weg. Nicht aufmachen, einfach wegschmeißen, o. k.?
Na gut.
Ich bin kein schlechter Mensch, Nini.
Ich weiß, sage ich, ich weiß, wer du bist. Wir helfen dir, versprochen.
Nein, sagt Amir, es ist zu spät, und jetzt, wo es zu spät ist, da will ich lieber bluten als zerbrechen.
Voll Sad, sagt Nico, als wir wieder vor dem Ausgang stehen. Er holt seinen Skizzenblock und einen Stift aus seinem Koffer und geht die lange Mauer ab. Zwischen Jameelah und mir steht der Präsentkorb, wir haben das Zellophanpapier abgemacht und trinken abwechselnd aus der zweiten Preiselbeersaftflasche.
Was machst du da, frage ich, aber Nico antwortet nicht, steht vor der Mauer und kritzelt in seinem Skizzenblock rum. Die Sonne knallt auf uns herunter.
Jameelah verdreht die Augen.
Der große Künstler am Werk oder was.
Bin ja schon fertig, ruft
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