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Tigermilch

Tigermilch

Titel: Tigermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie de Velasco
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Kaugummi kaut, einen weißen normalen Kaugummi, nicht rot, nicht grün, nicht Erdbeer, nicht Waldmeister, sondern einfach nur weiß, einfach nur Menthol, einfach nur erwachsen. Arm in Arm gehen wir durch den Wald, sein Rad schiebt Nico ganz cool und pomade neben sich her.
    Hab ich dir mal von dem Verlobungsring erzählt, frage ich, der von meiner Mutter, den mein Vater angeblich mitgenommen hat, als er abgehauen ist? Mama hat immer behauptet, er hätte ihn seiner neuen Frau geschenkt.
    Nee, wie kommst du jetzt darauf?
    Jasna hatte so einen Ring am Finger, er sah genauso aus wie Mamas Ring, deswegen.
    Hast du deinen Vater mal gefragt?
    Was?
    Ob er den Ring mitgenommen hat.
    Nein. Ich hab schon ewig nichts mehr von ihm gehört. Das letzte Mal hat er mir was zu irgendeinem Geburtstag geschickt. Fünf Euro und so eine blöde Karte. Ich weiß nicht mal, wo er jetzt wohnt, ich weiß auch nicht, ob Chico noch bei ihm ist, ob Chico überhaupt noch lebt.
    Mach dir keine Sorgen, Hunde können ziemlich alt werden, sagt Nico.
    Weiter vorne kann man die S-Bahn-Brücke erkennen. Nico setzt sich auf das BMX , und ich gehe mit meinen Füßen auf die Trickachsen.
    Kannst ruhig wieder Autobahn fahren, sage ich.
    Nee, muss nicht sein.
    Doch, jetzt will ich aber, sage ich, komm fahr los.
    Wir fahren unter der Brücke durch und sausen auf die Autobahn. Ganz dicht an meinem Ohr hupen die Autos, ich mache die Augen zu und lasse mir vom Fahrtwind das Gesicht peitschen, meine Haare flattern im Wind, ich wette, die Leute, die vorbeifahren, denken, das sieht aus wie bei einer Motorradwerbung.
    Das kannst du später mal deinen Kindern erzählen, schreit Nico und tritt noch fester in die Pedale.
    Ja, schreie ich zurück, aber ob meine Kinder später überhaupt noch wissen werden, was das ist, ein BMX , denke ich, oder ob das für die so was sein wird, wie für uns diese riesigen Einräder, mit denen man vor dem Krieg rumgefahren ist, die, die auf den Bildern unten in der U-Bahn vom Hansaviertel hängen, überhaupt, Kinder haben, das klingt so fremd, so wie irgendein exotisches Land, Guatemala, Straßenkinder kriegen keine Kinder, die werden gar nicht alt genug für so was, und wenn doch, dann sind sie keine Kinder mehr, Kinder, die Kinder kriegen, das gibts nicht, und was bin ich denn schon Besseres als ein Straßenkind, denke ich, und wie ich da so hinten bei Nico auf den Trickachsen stehe, da kriege ich plötzlich Schiss, vor allem auf einmal vorm Kinderkriegen und vorm Einsambleiben, vorm Altwerden und vorm Zu-früh-Sterben und davor, dass Nico was Schlimmes passieren könnte, ganz plötzlich was ganz Schlimmes.
    Scheiße, denke ich, das ist jetzt Liebe, und da mache ich schnell die Augen auf. Wie ein großer schwarzer Turm steht Nico vor mir auf den Pedalen, um ihn herum die leuchtende Stadt.

Die Geburtstagskarte ist weg, die mit Papas Adresse auf dem Briefumschlag. Ich stelle mein komplettes Zimmer auf den Kopf, ich finde hinterm Schreibtisch mein blaues Sparschwein, von dem ich immer dachte, dass Jessi es geklaut hat, und zwei lustige Taschenbücher, aber die Geburtstagskarte ist weg, dabei weiß ich genau, dass ich sie nicht weggeschmissen habe, genauso wenig wie den Bodyguard -Soundtrack, den Papa mir damals zusammen mit der Karte geschenkt hat. Das mit dem Bodyguard -Soundtrack, das habe ich Nico natürlich nicht erzählt, ich bin doch nicht blöd. Ich laufe in den Flur, ziehe die Kommodenschublade auf und suche nach dem Kellerschlüssel, aber da ist nirgendwo ein Kellerschlüssel, nur Krimskrams, leere Feuerzeuge, lauter Zeugs, das kein Mensch braucht.
    Mama, rufe ich, wo ist der Kellerschlüssel, aber Mama ist nicht da, nur Jessi, ich kann sie im Wohnzimmer herumschleichen hören. Als ich das Klicken vom Spiegelschrank höre, reiße ich die Wohnzimmertür auf. Jessi steht vor der Vitrine, ihre dünnen Beinchen gucken aus den kurzen Schlafanzughosen hervor, erschrocken schaut sie mich an.
    Was machst du da?
    Gar nichts.
    Du sollst die Finger vom Eierlikör lassen, sage ich.
    Ich war doch nur am Schnuckelschrank, ich wollt was Süßes, sagt Jessi.
    Du warst nicht am Schnuckelschrank, du warst am Spiegelschrank, das hab ich genau gehört, und wenn ich dich noch mal erwische, dann sag ich es Mama, kapiert?
    Ich hab Hunger, sagt Jessi, da klingelt es an der Tür.
    Im Flur stoße ich mich an der offenen Kommodenschublade. Es ist Jameelah. In der einen Hand hält sie ein dickes Heft mit einer Deutschlandflagge drauf, in der anderen eine

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