Tigermilch
nicht weit weg zwitschert was.
Hörst du das, sage ich. Das ist eine Nachtigall. Wusstest du, dass es hier mehr von denen gibt als in Bayern? Hat Jameelah mir erzählt.
Das hier ist ja auch die Hauptstadt der Tiere, sagt Nico und zündet die Tüte an, die bis eben hinter seinem Ohr geklemmt hat.
Hauptstadt der Tiere, warum das denn?
Keine Ahnung, sagt man so. Wahrscheinlich, weil es so viele Hunde gibt. Ist doch hier wie mit den Kühen in Indien, nur eben Hunde.
Ich mag Hunde, sage ich.
Ich auch. Ich mag alle Tiere, sagt Nico.
Die meisten Männer hassen Tiere, sage ich.
Quatsch, sagt Nico.
Wohl. Sie reißen ihnen die Flügel aus oder verkokeln sie unter Lupen, oder sie stecken ihnen Strohhalme in den Hintern, um sie aufzupusten, bis sie platzen. Ist doch wahr, das machen immer nur Jungs.
Ich weiß nicht, sagt Nico.
Doch, sage ich, so ist das, und weißt du, was sie mit den allerschönsten Tieren machen? Die allerschönsten Tiere werden gefangen und ausgestopft. Oder aufgespießt, genau wie Jasna.
Du spinnst ja, sagt Nico.
Vor uns in der Ferne kann man das Gefängnis erkennen. Über der Mauer leuchtet ein helles Licht, es dreht sich wie bei einem Leuchtturm im Kreis und scheint über die Baumkronen hinweg. Am Waldrand bleiben wir stehen, Nico versteckt das BMX in den Büschen.
Hör zu, sagt er und legt mir die Hände auf die Schultern, du bleibst hier stehen und beobachtest die Straße, ob jemand vorbeiläuft, ob ein Auto vorbeifährt. Egal was für eins, wenn ein Auto kommt, dann rufst du, klar?
Klar.
Hast du Forrest Gump gesehen?
Ja, wieso?
Wenn ich sage lauf, dann läufst du, so schnell und so weit du kannst, verstanden?
O. k.
Nico holt eine Sturmmaske aus dem Rucksack.
Warum ist Wändebemalen eigentlich ein Verbrechen, frage ich.
Wändebemalen ist kein Verbrechen. Jemanden unschuldig einzusperren, das ist ein Verbrechen, sagt Nico und zieht sich die Sturmmaske über.
Irgendwie muss ich eingepennt sein.
Schlafmütze, flüstert Nico und rüttelt mich sanft.
Tschuldigung, murmele ich.
Willst du es dir anschauen?
Klar, sage ich und stehe langsam auf. Meine Beine sind eingeschlafen, als ich über die Straße gehe, kribbeln sie. Von Weitem kann ich es schon erkennen. Ich will noch näher ran, aber Nico schüttelt den Kopf. Schweigend stehen wir im Gebüsch, vor uns die frisch bemalte Mauer. Sad steht da in großen blauen Buchstaben an der Wand, außen dunkelblau, innen hellblau und drumrum Gefängnismauer, ganz rund, ganz weich, ganz lustig. Das kreisende Licht fährt im Sekundentakt über Nicos Gesicht.
Blau ist Amirs Lieblingsfarbe, sage ich.
Blau heißt traurig auf Englisch, sagt Nico.
Irgendwo dahinter schläft er jetzt, sage ich.
Vielleicht schläft er gar nicht, sagt Nico, vielleicht liegt er wach und grübelt, über das, was wir ihm heute gesagt haben, kriegt Schiss, dass er sich seine Zukunft versaut, wird endlich mal vernünftig.
Ja, sage ich, hoffentlich.
Aber dieser andere Typ, sagt Nico, der schläft garantiert tief und fest, wetten.
Welcher andere Typ?
Na, der echte Mörder, sagt Nico und schaut mich an.
Er räumt die leeren Dosen zurück in den Rucksack und zerrt sein BMX aus den Büschen.
Komm, lass abhauen.
Schweigend laufen wir den Waldweg entlang. Ich muss mich immer wieder umdrehen, weil ich denke, da verfolgt uns jemand.
Da ist niemand, glaub mir, ich werd nie erwischt, sagt Nico, aber ich drehe mich trotzdem immer wieder um. Ich hab keine Angst davor, dass da Bullen sind, ich hab Angst vor dem Schatten, der sieht aus wie ein großes schwarzes Pferd. Wenn das alles nur nicht passiert wäre, denke ich, wenn Jameelah und ich nur nichts gesehen hätten, wenn wir nicht auf den Spielplatz gegangen wären, wenn Lukas sich einfach gleich von Anfang an in Jameelah verliebt hätte, dann wäre dieses schwarze Pferd jetzt nicht hinter mir her, das große schwarze Pferd, das ist nämlich die ganze Sache, das weiß ich genau, ich will das aber nicht, ich will die Sache begraben, ich will die Sache begraben und mit meinen Füßen die Erde darüber feststampfen, aber, wie soll ich denn allein ein großes schwarzes Pferd begraben, denke ich.
Nico bleibt stehen und nimmt meine Hand.
Ist alles in Ordnung, fragt er.
Ja, ich bin nur traurig. So habe ich mir die Sommerferien nicht vorgestellt.
Ja, sagt Nico, weiß ich, dann schlingt er seine Arme um meine Hüften und küsst mich. Sein Mund schmeckt nach Zigaretten und Menthol, er schmeckt nach Menthol, weil er einen
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