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Tigermilch

Tigermilch

Titel: Tigermilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie de Velasco
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Die Kinderklinik, der Chef, der grüne Park, Nicos Küsse, das alles ist unendlich weit weg, ich war dort nie, ich muss das alles nur geträumt haben. Das hier, das ist das echte Leben, Seitenstiche, Pornos und der Geschmack von Blut. Ich pule den vollgebluteten Arschpapierklumpen aus dem Mund, werfe ihn zu dem anderen Schweinkram in den Sack und schmeiße alles zusammen in den Mülleimer neben der Wache und gehe hinein.
    Auf der Wache riecht es nach Aktenordnern und Kaffee und nach Räumen, in denen man nicht mehr rauchen darf. Ich laufe den Gang runter, aber ich muss gar nicht weit laufen, da kann ich sie schon alle sitzen sehen, Nico und Mama, Noura und Jameelah und zwei Polizisten, die sehr ernst gucken. Nico schaut schnell weg, als ich auftauche. Dieser Feigling.
    Mama kommt auf mich zu.
    Wo bist du jetzt schon wieder hineingeraten, sagt sie, als ob mir so was ständig passieren würde, als ob ich quasi auf dem Spielplatz oben im Rutschehäuschen wohnen und ständig beobachten würde, wie Mädchen unter Amirs Linde von ihren Brüdern totgestochen werden.
    Kinder, ihr hättet doch etwas sagen müssen, sagt Noura und nimmt mich in den Arm.
    Ist das die andere Zeugin, fragt der Polizist.
    Ja, sage ich, aber das mit dem Schmuck, das kann ich erklären, ich wollte den unbedingt mitnehmen, nicht sie, sage ich und zeige auf Jameelah, sie hat nichts damit zu tun. Zuerst haben wir ihn weggeworfen, und dann sind wir wieder zurück, aber da hatten die Jungs von Sasse ihn schon mitgenommen.
    Ist schon gut, sagt der Polizist, das hat uns deine Freundin schon alles erzählt.
    Und, sage ich, gibt das jetzt Ärger?
    Nein, sagt der Polizist und lächelt, aber dann zieht er plötzlich die Augenbrauen zusammen.
    Du blutest, sagt er.
    Ja, das sind die Weisheitszähne, sage ich, die Fäden sind gerissen.
    Das auch noch, sagt Mama.
    Der Polizist drückt mir ein Taschentuch in die Hand, da kommt eine junge Polizistin den Gang heruntergelaufen.
    Wir haben ihn, sagt sie, er wurde zu Hause aufgegriffen.
    Und, fragt der Polizist, dramatisch?
    Nicht wirklich, hat sich zu Hause verbarrikadiert, wir vermuten, dass er sich eventuell was antun wollte, aber die Kollegen sind rein und konnten ihn überwältigen. Kein Personenschaden.
    Personenschaden. Ich lasse das Wort an mir vorbeilaufen. Ich weiß, was Personenschaden bedeutet, das weiß jeder hier, weil das immer durchgesagt wird, wenn sich mal wieder jemand vor die S-Bahn geworfen hat und man erst weiterfahren kann, wenn die den Personenschaden von den Gleisen gekratzt haben. Manchmal ist es vielleicht besser zu sterben als mit dem, was passiert ist, weiterzuleben, hat Tarik wahrscheinlich gedacht. Ich bin mir sicher, dass das stimmt.
    Mama zieht mich zu sich.
    Was machst du nur für Sachen, sagt sie und streicht mir übers Haar.
    Ich zucke mit den Schultern.
    Keine Ahnung, sage ich, keine Ahnung, was ich sagen soll, ich habe keine Sachen gemacht, was habe ich denn schon für Sachen gemacht. Mama kapiert das nicht, sie hat auf ihrer Insel alles verlernt, das merke ich erst jetzt richtig. Ich versuche an Mama vorbei zu Jameelah zu schauen, aber sie schaut weg, in die andere Richtung, stattdessen schaut Nico mich an, aber ich werfe Nico den bösesten Blick aller Zeiten zu, zumindest hoffe ich, dass es so rüberkommt.
    Entschuldigung, sagt Noura, was ist mit der kleinen Selma und ihrer Mutter?
    Sie sind an einen geheimen Ort gebracht worden, sagt die Polizistin, wegen der Presse.
    Und was ist mit dem Jungen?
    Er wird, sobald alles überprüft worden ist, aus der U-Haft entlassen, sagt der Polizist.
    Und dann? Wo wird er leben?
    Ich weiß es nicht, vermutlich wird er zunächst in ein Heim kommen.
    Kann er nicht erst einmal bei uns wohnen, fragt Noura.
    Theoretisch schon, sagt die Polizistin, das müssen Sie mit dem Jugendamt klären.
    Das wird sicherlich gehen, sagt ihr Kollege und legt Noura die Hand auf die Schulter, und wegen der Ausländerbehörde machen Sie sich mal keine Sorgen. So eine Zeugenaussage hat keine Nachteile für Sie und Ihre Tochter. Wäre ja verrückt, wenn sich das auch noch negativ auswirken würde.
    Mama steht auf.
    Können wir jetzt gehen? Ich habe zwei kleine Kinder zu Hause.
    Tut mir leid, sagt der Polizist, wir müssen noch die Aussage Ihrer Tochter aufnehmen, aber der Rest kann gehen.
    Nico steht auf. Er kommt auf mich zu und will gerade den Mund aufmachen.
    Lass mich bloß in Ruhe, sage ich und drehe mich zu Jameelah um.
    Noura steht auf.
    Komm, sagt sie zu

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