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Tijuana Blues

Tijuana Blues

Titel: Tijuana Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Trujillo Muñoz
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Nachtschwärmer. Es war zwanzig vor neun.
    »Eloísa sollte auf die andere Seite gebracht werden. Das ist sicherer«, sagte Morgado, als er ein paar Straßen weiter ausstieg.
    »Pass auf dich auf. Die Wetten laufen immer noch gegen dich. Und die Leute hier wissen noch nicht, dass niemand für deine Leiche zahlt.«
    »Sag Teresita, die Ermittlungen sind beendet. Morgen früh wird jeder wissen, was wirklich mit Heri passiert ist.«
    Morgado blieb in La Chinesca. Er atmete tief durch. Er beherrschte sich und fasste nicht an seine Seite. Die 45er war nicht mehr länger sein Talisman, sie war eine Last, eine Erinnerung an Schwäche und Lüge. Wie sollte man in einem Land wie diesem von Menschenrechten sprechen? Wie sollte man das menschliche Leben aus dem Blickwinkel eines Mörders verteidigen? Myriam hätte nicht sterben müssen, und doch war sie tot. Eine blitzartige Entscheidung, ein Reflex. Er dachte daran, wie sie auf den Schreibtisch gefallen war. Er dachte an die vielen Menschen, die neben ihm gestorben waren.
    Es war offenkundig, aber Morgado bemerkte es erst jetzt: Das Leben in Mexicali – und das hatte nichts mit der extremen Hitze zu tun – war unsicher und flüchtig, überraschend und hektisch. Eine elektrische Entladung. Die Zeit wird hier anders gemessen, intensiver. Diese Stadt hat in einem Jahrhundert eine Entwicklung durchlaufen, für die andere Städte tausend Jahre gebraucht haben. Das ist es. Das ist es. Wir sind darin alle wie Windhunde auf der Rennbahn. Wir rennen hinter einem unerreichbaren Hasen her, und dieser Hase, das sind die Träume jedes Einzelnen: das schnelle Geld, Konsum, Jobs. Trugbilder, die manchmal wahr werden, aber nur selten von Dauer sind. Hier erfüllt alles seinen Zyklus in einem einzigen Augenblick.
    Als er an einer Ecke stehen blieb, fühlte Morgado sich als Teil dieser Meute von amerikanischen Touristen, Straßenhändlern, Tacoverkäufern und Huren, bedrohlichen Polizisten und bettelnden Mixteken, lachenden Musikern und blinden Bettlern, furchtlosen Chinesen und Predigern der guten alten Frohen Botschaft. Ein Zirkus aus gezähmten wilden Tieren und ebenso wilden Dompteuren, ein melting pot.
    Morgado hob die Hand. Ein leeres Taxi hielt neben ihm und brachte ihn direkt in das Zeitungsaquarium, das Federico Lizárraga leitete.
     
21
     
    Als er zwei Stunden später im Hotel eintraf, entdeckte er in der Lobby Harry Dávalos, der auf ihn wartete. »Du hinterlässt einen Haufen Leichen, wo du hingehst. Ich habe schon Angst, dich zu begrüßen. Hoffentlich bin ich nicht der nächste Tote.«
    »Keine Sorge. Es ist alles vorbei. Zumindest, was mich angeht. Du kannst deinen Leuten sagen, dass es keine Toten mehr geben wird. Sie sollen ins Treinta-Treinta gehen und verbreiten, dass es vorbei ist mit den Wetten gegen mich.«
    »Das ist schon erledigt. Aber die Sache bleibt komplett unter uns.« Dávalos sah ihn an, er erwartete eine Antwort.
    Morgado zuckte die Achseln. »Ja. Es wissen nur du und ich und die Leser des Diario 29 davon.«
    Harry erstarrte einen Moment, aber dann lachte er. »Gerissener Hund. Ich wusste, dass du uns das antust. Du hast ein Faible für Publicity und Ruhm. Wie du meinst. Du bist erwachsen. Du kennst die Konsequenzen deines Handelns.«
    »Ja. Ich bin in der letzten Zeit sehr gewachsen.«
    Dávalos klopfte mit den Fingern auf Morgados Brust. »Der Stolz. Der Stolz. So seid ihr Latinos. Ob Nicaraguaner oder Mexikaner, it’s the same. Der Stolz ist der Stein an eurem Hals. Ihr zieht es vor, mit ihm zu ertrinken, anstatt ihn abzunehmen und weiterzuleben. Deswegen kommt ihr nicht voran. Ihr könnt es nicht akzeptieren, eure Seelen ganz zu verkaufen. Ihr seid zu radikal für diese Zeiten.«
    »Hast du noch mehr Mythen auf Lager, Harry?«
    »Ich sags dir noch mal, Morgado: Das ist ein Krieg, der nie aufhört.«
    »Ich weiß. Es hat vor Urzeiten angefangen. Aber denk daran, dass wir viel Geduld haben. Ein altes Erbe.«
    »Viel Hoffnung und wenig Früchte.«
    »Wir versuchen die Erinnerung am Leben zu erhalten, die Bindung an die Vergangenheit nicht zu verlieren.«
    »Wozu, wenn die heutige Welt keine Vergangenheit hat? Sie braucht auch keine. Und wenn doch Bedarf besteht, dann erfindet sie eine. Die Welt befindet sich in einem ständigen Recycling-Prozess, sie verändert ihre Form, es wechseln Moden, Fassaden, Vorlieben und Ängste. Wach auf! Wir Amis sind die echten Kinder dieser Epoche. Wir bewegen uns in ihr wie Surfer, die auf den Wellen dahingleiten. Wir sind

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