Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Essen, die fehlende Unterkunft, die Schicksalsschläge. Das alles hat mich krank gemacht, und dich macht es jetzt bald zur Waise. Tut mir leid, Mr. Bones. Ich hab mein Bestes gegeben, aber manchmal ist das Beste einfach nicht gut genug. Wenn ich nur für ein paar Minuten wieder auf die Beine käme, könnte ich mir vielleicht noch was ausdenken. Dich irgendwo unterbringen, damit du versorgt bist. Aber mir geht die Puste aus. Ich spür, wie sie regelrecht rauspfeift und alles langsam von mir abfällt. Aber hab Geduld mit mir, Hund, ich rappel mich schon noch mal auf. Sobald das Tohuwabohu in meinem Schädel verschwindet, versuch ich’s noch mal mit der guten alten Collegebildung. Wenn es denn verschwindet. Wenn nicht, verschwinde eben ich, n’est ce pas? Ich brauch nur ein bißchen Zeit. Ein paar Minuten, um wieder zu Atem zu kommen. Dann sehen wir weiter. Oder auch nicht. Und wenn nicht, wird es stockfinster sein. Überall stockfinster, so weit das Auge nicht reicht. Bis ans Meer, bis in die salzigen Tiefen des Nichts, wo nichts mehr ist und nie etwas sein wird. Nur ich. Nur nicht ich. Nur die Ewigkeit."
    Dann hörte Willy auf zu reden, und die Hand, die Mr. Bones in den letzten fünfundzwanzig Minuten den Kopf gekrault hatte, wurde langsam schlaff und rührte sich schließlich gar nicht mehr. Mr. Bones hätte schwören können, daß dies das Ende war. Was hätte er in Anbetracht der Endgültigkeit dieser letzten Worte auch sonst denken sollen? Was, außer daß sein Herrchen von ihm gegangen war, hätte er auch sonst denken sollen, als die Hand, die seinen Schädel massiert hatte, plötzlich herabglitt und leblos zu Boden fiel? Mr. Bones traute sich nicht aufzuschauen. Er ließ den Kopf auf Willys rechtem Oberschenkel liegen und hoffte verzweifelt, daß er sich irrte. Und tatsächlich war es nicht so still, wie es hätte sein sollen. Von irgendwoher kamen Geräusche, und als Mr. Bones sich bemühte, den Sumpf seines wachsenden Kummers zu durchdringen und genauer hinzuhören, merkte er, daß sie von seinem Herrchen rührten. War das möglich? Er lauschte noch einmal, weil er seinen Ohren nicht traute, und wappnete sich gegen die Enttäuschung, obwohl er sich immer sicherer wurde. Ja, Willy atmete. Die Luft drang ihm noch immer durch den Mund in die Lungen und wieder heraus, vollführte mühsam den alten Tanz, und obwohl sein Atem nun flacher war als noch vor ein, zwei Tagen, kaum mehr als ein federleichtes Flattern, ein leises Zischen aus der Kehle und dem oberen Lungenbereich, war es doch Atem, und wo Atem war, war Leben. Sein Herrchen war nicht tot. Es war eingeschlafen.
    Keine zwei Sekunden später, wie um die Richtigkeit von Mr. Bones’ Beobachtungen zu bestätigen, begann Willy zu schnarchen.
    Mittlerweile war der Hund das reinste Nervenbündel. Sein Herz war hundertmal durch die Reifen von Angst und Verzweiflung gesprungen, und als er nun verstand, daß ihm noch eine Schonfrist gewährt und die Schicksalsstunde ein wenig hinausgezögert worden war, brach er vor Erschöpfung fast zusammen. Ihm wurde einfach alles zuviel. Als er seinen Herrn zu Boden sinken und sich an Polens Wand lehnen sah, hatte er sich geschworen, wach zu bleiben und ihn bis zum bitteren Ende zu beschützen. Das war seine Pflicht, seine Hauptverantwortung als Hund. Doch als er nun Willys vertrautes Schnarchlied hörte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen und schloß die Augen. Die einschläfernde Wirkung des Geräuschs war immens. Sieben Jahre lang war Mr. Bones auf den Wogen dieser Musik in den Schlaf gesegelt, und mittlerweile war daraus das Signal geworden, daß mit der Welt alles stimmte und daß es Zeit war, ganz gleich, wie hungrig oder verzweifelt man in diesem Augenblick sein mochte, die Sorgen beiseite zu schieben und ins Land der Träume zu gleiten. Und nachdem er sich noch ein wenig zurechtgerückt hatte, tat Mr. Bones genau das. Er legte den Kopf auf Willys Bauch, Willy hob unwillkürlich den Arm und ließ ihn auf seinen Rücken hinabsinken, und schon schlief der Hund ein.
    Da hatte er den Traum, in dem er Willy sterben sah. Es fing damit an, daß sie beide die Augen aufschlugen und aus dem Schlaf erwachten, in den sie gerade gefallen waren - eben jenem Schlaf, den sie gerade schliefen, der, in dem Mr. Bones den Traum hatte. Willys Zustand hatte sich seit vor dem Nickerchen nicht verschlimmert. Es schien ihm sogar eher ein wenig besser zu gehen. Zum erstenmal seit Monaten hustete er nicht nach dem Wachwerden, bekam keinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher