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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Jahre lang abgegeben habe. Ich bin eben auch nur ein Mensch, oder? Und wenn mich das zum Heuchler macht, na, dann sei’s drum.
    Manchmal muß man vor Ehrfurcht ja einfach in die Knie gehen. Da kommt jemand mit einer neuen Idee daher, die noch keinem eingefallen ist, eine Idee, die so simpel und vollkommen ist, daß man sich fragt, wie man es nur in aller Welt geschafft hat, bisher ohne sie zu überleben. Der Koffer auf Rollen, zum Beispiel. Warum hat das so lange gedauert? Seit dreißigtausend Jahren schleppen wir unsere Lasten mit uns rum und mühen uns schwitzend von einem Ort zum anderen, und das einzige, was dabei rausgekommen ist, waren Muskelkater, Rückenschmerzen und Erschöpfung. Ich meine, es ist doch nicht so, als wär das Rad noch nicht erfunden, oder? Das macht mich wirklich fertig. Warum mußten wir bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts warten, bis dieses tolle Gerät das Licht der Welt erblickte? Man sollte doch annehmen, daß irgendwer beim Anblick von Rollschuhen auf die Idee gekommen wäre, zwei und zwei zusammenzuzählen. Aber nein. Es vergehen fünfzig Jahre, fünfundsiebzig Jahre, und noch immer schleppen die Leute, jedesmal wenn sie Tante Rita in Poughkeepsie besuchen wollen, ihre Taschen über Flughäfen und Bahnhöfe. Ich sage dir, mein Freund, die Dinge sind nicht so simpel, wie sie aussehen. Der menschliche Geist ist ein grobes Werkzeug, und oft fällt es uns nicht leichter, für uns selbst zu sorgen, als dem kleinsten Wurm in der Erde.
    Was immer ich gewesen bin, zum Wurm bin ich nie herabgesunken. Ich bin gesprungen, galoppiert, hab mich in die Lüfte erhoben, und wenn ich abgestürzt bin, hab ich mich immer wieder aufgerappelt und es noch mal versucht. Selbst jetzt, wo es langsam dunkel um mich wird, ist mein Verstand noch hellwach und denkt überhaupt nicht dran, das Handtuch zu werfen. Der durchsichtige Toaster, Kumpel. Vor zwei, drei Nächten stand er mir wie eine Vision vor Augen, und seither hab ich an nichts anderes mehr gedacht. Warum nicht zeigen, wie es funktioniert, hab ich mir gesagt, warum nicht zuschauen können, wie das weiße Brot goldbraun wird, die Metamorphose mit eigenen Augen sehen? Wozu soll es denn gut sein, das Brot einzusperren und hinter diesem häßlichen Edelstahl zu verstecken? Ich rede hier von durchsichtigem Glas, und dahinter die orangenen Glühdrähte. Das wär doch schön, ein Küchenkunstwerk, eine Leuchtskulptur, über die man nachdenken könnte, selbst wenn man nur der simplen Aufgabe nachgeht, Frühstück zu machen und sich für den bevorstehenden Tag zu wappnen. Durchsichtiges, hitzebeständiges Glas. Wir könnten es blau einfärben oder grün, in jeder Farbe, die wir wollen; stell dir mal die Farbkombinationen vor, wenn es von innen orange strahlt, stell dir nur mal die visuellen Wunder vor, die da möglich wären. Das Toasten würde sich in einen Glaubensakt verwandeln, eine Beschwörung des Jenseitigen, eine Art Gebet. Himmelherrgott. Wenn ich doch nur die Kraft hätte, daran zu arbeiten, mich hinzusetzen und ein paar Pläne zu zeichnen, das Ding zu perfektionieren und dann zu sehen, was man damit anfangen kann. Mehr hab ich mir nie gewünscht, Mr. Bones: die Welt ein bißchen besser zu machen. Ein bißchen Licht in die düsteren, öden Winkel der Seele zu bringen. Das geht mit ’nem Toaster, das geht mit ’nem Gedicht, das geht, indem man ’nem Fremden die Hand reicht. Egal, wie. Die Welt ein bißchen besser zu verlassen, als man sie vorgefunden hat. Mehr kann ein Mensch nicht verlangen.
    Ja, ja, kicher du ruhig. Wenn ich ins Labern gerate, labere ich eben. Basta. Ist doch gut, wenn man sich ab und zu das Hirn freischwätzen kann. Macht mich das gleich zum Trottel? Vielleicht. Aber immer noch besser als Verbitterung, sage ich mir, besser den Lehren des Weihnachtsmannes folgen, als sein Leben in den Klauen der Selbsttäuschung vergeuden. Ich weiß schon, was du denkst. Brauchst es mir gar nicht zu sagen. Ich kann die Wörter in deinem Kopf hören, werter Herr, und ich werde dir nicht widersprechen. Wozu diese Selbstquälerei, fragst du dich. Wozu herumzappeln und sich im Staub winden, wozu dieser lebenslange Kampf gegen die Auslöschung? Gute Fragen. Ich hab sie mir oft genug selbst gestellt, und die einzige Antwort, die mir darauf eingefallen ist, ist die, die nichts davon beantwortet: Weil ich es so wollte. Weil ich keine andere Wahl hatte. Weil es auf solche Fragen keine Antwort gibt.
    Also keine Entschuldigungen. Ich war schon immer ein
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