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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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beigebracht hatte. Wie hatte er nur vergessen können, sich um so etwas Wichtiges zu kümmern? Jetzt, wo der Hund bald ganz auf sich gestellt sein würde, war er auf jede nur erdenkliche Fähigkeit angewiesen, und Willy hatte versagt, hatte nichts getan, um ihm ein neues Zuhause zu besorgen, und ließ ihn ohne Geld und Futter zurück, ohne eine Chance, die Gefahren zu meistern, die vor ihm lagen. Der Barde faselte mittlerweile wild drauflos, aber Mr. Bones bekam alles mit, und er konnte Willys Worte genauso deutlich verstehen wie im richtigen Leben. Das war das Merkwürdige an dem Traum. Keine Bildstörungen, keine Streifen, kein plötzlicher Senderwechsel. Es wirkte alles ganz echt, und obwohl er schlief, obwohl er die Worte nur im Traum hörte, war er im Traum hellwach, und je länger er schlief, desto wacher kam er sich vor.
    Mitten in Willys Spekulationen über das Lesetalent von Hunden hielt ein Streifenwagen vor Poes Haus, und zwei große uniformierte Männer stiegen aus. Einer war weiß, der andere schwarz, und beide schwitzten in der Augusthitze, zwei breithüftige Bullen auf Sonntagsstreife, die Instrumente zur Durchsetzung des Rechts um die Taille geschnallt: Revolver und Handschellen, Gummiknüppel und Holster, Taschenlampen und Munition. Es blieb nicht genug Zeit, um eine vollständige Inventur der beiden vorzunehmen, denn kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, quatschte einer von ihnen bereits Willy an (»Du kannst hier nicht bleiben, Kumpel. Also hoch, sonst mach ich dir Beine!«), und in diesem Augenblick wandte Willy sich um, sah seinem Freund direkt in die Augen und sagte: »Hau ab, Bonesy. Laß dich bloß nicht schnappen«, und weil Mr. Bones wußte, daß es nun soweit war, leckte er Willy übers Gesicht, winselte einen kurzen Abschiedsgruß, während sein Herrchen ihm ein allerletztes Mal den Kopf tätschelte, rannte los und raste die North Amity Street hinunter, so schnell ihn seine Beine tragen konnten.
    Er hörte die aufgeregte Stimme des einen Polizisten hinter sich (»Frank, schnapp dir den Köter! Schnapp den verdammten Köter, Frank!«), aber er hielt erst an der nächsten Ecke an, gut fünfundzwanzig, dreißig Meter von dem Haus entfernt. Frank hatte es längst aufgegeben, hinter ihm herzurennen. Als Mr. Bones sich umdrehte, um zu schauen, was mit Willy war, sah er den weißen Polizisten zum Haus zurückwatscheln. Im nächsten Augenblick verfiel der Polizist, aufgescheucht durch den anderen, der vor Willy kniete und ihn wie wild herbeiwinkte, in einen langsamen Trab und schloß sich seinem Kollegen an. Um den Hund machte sich keiner mehr Sorgen. Sie mußten sich um einen Sterbenden kümmern, und solange Mr. Bones in sicherer Entfernung blieb, würde ihm nichts geschehen.
    Also stand er an der Ecke und schaute zu; er mußte heftig schnaufen, so außer Atem war er nach dem kurzen Sprint. Er war schwer versucht, die Schnauze zu öffnen und einen seiner dunklen Mondheuler loszulassen, bei denen einem das Blut in den Adern gefror, doch er unterdrückte das Bedürfnis, weil er ganz genau wußte, daß dies nicht der rechte Augenblick dafür war, seinem Kummer freien Lauf zu lassen. In der Entfernung sah er den schwarzen Polizisten am Wagen stehen und ins Funkgerät sprechen. Eine gedämpfte, schwer verrauschte Antwort hallte über die leere Straße. Der Polizist antwortete, darauf folgte ein weiterer Schwall von Lärm und unverständlichen Worten. Auf der anderen Straßenseite öffnete sich eine Tür, und jemand trat aus dem Haus, um zu sehen, was da los war. Eine Frau in einem gelben Morgenmantel und mit dem Kopf voller pinkfarbener Lockenwickler. Aus einem anderen Haus traten zwei Kinder. Ein etwa neunjähriger Junge und ein sechsjähriges Mädchen, beide in kurzen Hosen und barfuß. Von Willy, der noch immer dort lag, wo Mr. Bones ihn zurückgelassen hatte, war nichts zu sehen; der breite, schwerfällige Körper des weißen Polizisten versperrte dem Hund die Sicht. So vergingen ein paar Minuten, dann noch ein paar, und dann hörte Mr. Bones von ferne ganz leise den Klang einer näherkommenden Sirene. Als der weiße Krankenwagen in die North Amity Street einbog und vor dem Haus stehenblieb, hatten sich etwa ein Dutzend Menschen versammelt, die mit verschränkten oder in den Taschen vergrabenen Händen dastanden. Zwei Sanitäter sprangen hinten aus dem Rettungswagen, rollten eine Trage zum Haus und kehrten einen Augenblick später mit Willy an Bord zum Wagen zurück. Es war schwer, etwas zu
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