Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Anfall, geriet nicht in den Griff des grausamen Kollers mit Luftschnappen, Würgen und blutigem Auswurf. Er räusperte sich nur, nahm den Faden fast genau dort wieder auf, wo er ihn hatte fallenlassen, und redete einfach weiter.
    Er quasselte wohl dreißig oder vierzig Minuten in einem rasenden Taumel halber Sätze und unfertiger Gedanken. Er tauchte vom Grund des Ozeans auf, holte einmal tief Luft und legte dann los über seine Mutter. Er stellte einer Liste ihrer guten Seiten eine ebensolche ihrer Fehler gegenüber und bat für allen Kummer, den er ihr je angetan haben mochte, um Verzeihung. Bevor er zum nächsten Thema überging, erinnerte er an ihr Talent, Witze zu ruinieren, und ergötzte Mr. Bones mit liebevoll ausgesuchten Beispielen ihres unfehlbaren Geschicks, im letzten Augenblick die Pointe zu vergessen. Danach spulte er eine weitere Liste herunter - diesmal eine von allen Frauen, mit denen er je geschlafen hatte (inklusive körperlicher Beschreibungen) -, gefolgt von einer ausschweifenden Haßtirade auf die Gefahren des Konsumzwangs. Dann plötzlich hielt er einen gelehrten Vortrag über die moralischen Vorzüge des Pennertums, der in einer herzerweichenden Entschuldigung an die Adresse von Mr. Bones gipfelte, ihn nach Baltimore geschleift zu haben, was sich ja leider als vergebliches Unterfangen herausgestellt habe. »Ich hab mich einfach um ein paar Buchstaben vertan«, sagte er. »Ich bin nicht wegen Bea hier, sondern für meinen Schwanengesang«, und gleich darauf trug er ein neues Gedicht vor, eine feierliche Anrede an den unsichtbaren Demiurgen, der im Begriff war, seine Seele einzufordern. Das Gedicht, das ihm offenbar einfach zugeflogen war, fing etwa so an:
     
    O Herr der zehntausend glühenden Feuer und Verliese,
    des zermalmenden Hammers und des Kettenbriefblicks,
    Schwarzer Herrscher der Salzbergwerke und Pyramiden,
    Maestro der Dünen und fliegenden Fische,
    Schenk Dein Ohr dem Geschwätz Deines armen Dieners,
    Der da, zerschellt an den Gestaden Baltimores,
    Nun auf dem Weg ist ins Große Jenseits...
     
    Noch war das Gedicht nicht ganz verklungen, da folgten ihm weitere Klage- und Trauergesänge und unberechenbare Ergüsse über alle möglichen Themen: die Geruchssymphonie und warum sie gescheitert war, Happy Feiton und die Knothole Gang (wer zum Henker war das?) und die Tatsache, daß die Japaner mehr in Amerika angebauten Reis aßen als japanischen. Von da schweifte er zu den Höhen und Tiefen seines literarischen Lebens ab und suhlte sich minutenlang im Sumpf von aufgestautem Groll und morbidem Selbstmitleid. Seine Stimmung wurde erst wieder besser, als er eine Weile über seinen Zimmerkollegen auf dem College sprach (derselbe, der ihn 1968 ins Krankenhaus gebracht hatte) - ein Typ namens Anster, Omster oder so ähnlich - , der ein paar Bücher geschrieben hatte, die so lala waren, und der Willy mal versprochen hatte, er würde einen Verleger für dessen Gedichte finden, aber natürlich hatte Willy ihm nie ein Manuskript geschickt, und das war’s dann gewesen, aber es bewies immerhin, daß er hätte veröffentlichen können, wenn er nur gewollt hätte - er wollte nur nicht, basta, und außerdem interessierte sich doch sowieso keine Sau für diesen eitlen Scheiß. Der Weg war das Ziel, nicht das, was man tat, wenn man es geschafft hatte, und was ihn anging, waren all die Notizbücher in dem Greyhound-Schließfach keinen Furz wert. Sollten sie doch verbrennen, war ihm doch egal, sollten sie im Müll landen oder auf dem Männerklo, damit sich der müde Reisende damit den Arsch abwischen konnte. Er hätte sie gar nicht erst nach Baltimore schleppen sollen. Ein Anfall von Schwäche, mehr nicht, ein letzter verzweifelter Zug im ekelhaften Ego-Schach - diesem Spiel, das man nur verlieren und nie gewinnen konnte. Danach schwieg Willy einen Augenblick und wunderte sich über das Ausmaß seiner eigenen Verbitterung, doch schließlich gab er ein langes, pfeifendes Gelächter von sich und machte sich mutig über sich und die Welt lustig, die er doch so liebte. Dann kehrte er wieder zu Omster zurück und referierte eine Geschichte, die ihm sein Freund vor vielen Jahren erzählt hatte und die von einem English Setter handelte, den er in Italien kennengelernt hatte und der ganze Sätze auf einer extra für Hunde gebauten Schreibmaschine tippen konnte. Unerklärlicherweise brach Willy daraufhin in Tränen aus, und dann begann er sich dafür zu tadeln, daß er Mr. Bones nie das Lesen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher