Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
hinter den feindlichen Linien. Mr. Bones spazierte zur westlichen Seite des Sockels und linste um die Ecke. Da waren gut achtzehn oder zwanzig Tauben und stolzierten in der Sonne auf und ab. Er kauerte sich hin, fixierte die ihm nächste Taube, und als er mit dem Bauch den Boden berührte, begann er so langsam und unauffällig vorwärts zu kriechen, wie er nur konnte. Kaum kam er in Sicht, flatterten drei, vier Spatzen vom Pflaster auf und setzten sich auf den Kopf des Soldaten, doch die Tauben schienen ihn nicht zu bemerken. Sie kümmerten sich weiter um ihre Angelegenheiten, gurrten und staksten auf die ihnen eigene hohlköpfige Art umher, und als er sich seinem ausgespähten Opfer näherte, konnte er erkennen, was für ein feines, fettes Exemplar es war, ein erstklassiger Fang. Er würde auf den Nacken zielen, sie mit offenem Rachen von hinten anspringen, und wenn er nur im richtigen Augenblick zuschlug, hätte die Taube keine Chance. Alles war nur eine Frage der Geduld und des Timings. Um nur ja keinen Verdacht zu erregen, hielt er inne und versuchte sich so klein wie möglich zu machen, so starr und leblos wie das steinerne Pferd. Er mußte nur noch ein bißchen näher heran, die Entfernung um vielleicht einen halben Meter verringern, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholen konnte. Er hielt fast die Luft an, rührte kaum einen Muskel, und trotzdem schlugen plötzlich rechts von ihm am Rande des Schwarms ein halbes Dutzend Tauben mit den Flügeln, hoben ab und stiegen wie ein Hubschraubergeschwader zum Standbild auf. Das war doch nicht möglich. Er hatte alles genau nach Vorschrift gemacht, war nicht ein einziges Mal von dem Plan abgewichen, den er sich zurechtgelegt hatte, und doch hatten sie ihn bemerkt, und wenn er jetzt nicht fix reagierte, war alles für die Katz. Die kleine Jagdtrophäe direkt vor ihm watschelte mit einer Reihe von schnellen, sicheren Schritten außer Reichweite. Eine weitere Taube flog davon, dann noch eine und noch eine. Dann brach die Hölle los, und Mr. Bones, der bis dahin die strengste, bewundernswerteste Selbstdisziplin aufgebracht hatte, fiel nichts Besseres ein, als aufzuspringen und hinter seinem Opfer herzujagen. Eine gedankenlose Verzweiflungstat, die gleichwohl beinahe zum Erfolg geführt hätte. Er spürte einen Flügel gegen seine Schnauze schlagen, als er den Rachen aufsperrte, aber näher kam er nicht heran. Seine Mahlzeit flog davon und entkam mitsamt allen anderen Vögeln auf der Verkehrsinsel, und siehe da, plötzlich war Mr. Bones allein, galoppierte in einem Anfall von wütender Enttäuschung hin und her, sprang in die Luft und bellte, bellte ihnen nach, bellte vor Zorn und Verzweiflung, und noch lange nachdem auch der letzte Vogel hinterm Glockenturm der Kirche auf der anderen Straßenseite verschwunden war, bellte er - bellte sich selbst an, die Welt, einfach alles und jeden.
    Zwei Stunden später entdeckte er ein Eishörnchen, das auf dem Bürgersteig neben dem Marinemuseum vor sich hinschmolz (Kirsch-Vanille, mit Zuckerstreuseln in der weichen, süßen Masse), und dann, kaum eine Viertelstunde später, stieß er auf die Reste eines Kentucky-Fried-Chicken-Dinners, das jemand auf einer Parkbank zurückgelassen hatte - eine rot-weiß gestreifte Schachtel mit drei halbgegessenen Schenkeln, zwei unberührten Flügeln, einem pappigen kleinen Brötchen und einem Klumpen Kartoffelbrei mit brauner, salziger Soße. Das Essen gab ihm wieder ein bißchen Zuversicht, wenn auch erheblich weniger, als man hätte annehmen können. Das Debakel auf der Verkehrsinsel hatte ihn tief erschüttert, und noch Stunden später bohrte sich die Erinnerung an den Fehlschlag tief in sein Bewußtsein. Er hatte sich blamiert, und obwohl er über die Ereignisse nicht lange nachdenken wollte, konnte er sich nicht des Gefühls erwehren, daß er alt und ausgelaugt war, einfach abgetakelt.
    Die Nacht verbrachte er auf einem leeren Grundstück, wo er sich unter sprießenden Rankengewächsen und einem schwarzen Himmel voller stechend strahlender Sterne zusammenrollte und die Augen kaum fünf Minuten am Stück geschlossen halten konnte. Der Tag war schlimm genug gewesen, aber die Nacht war noch viel schlimmer, denn es war die erste Nacht, die er je allein verbrachte, und Willys Abwesenheit war so deutlich zu spüren, daß Mr. Bones nichts anderes tun konnte, als dazuliegen und sich nach der körperlichen Nähe seines Herrchens zu sehnen. Als er schließlich in so etwas wie richtigen Schlaf fiel, war

Weitere Kostenlose Bücher