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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Wohnzimmerteppich im Haus seiner neuen Besitzerin zusammengerollt. Als er sich von der Pfütze abwandte und weiterlief, fragte er sich, warum er, ein ganz gewöhnlicher Hund, auf diesen Gedanken kommen konnte, aber nicht Willy, dessen Verstand doch sonst zu solch atemberaubenden Volten und verblüffenden Pirouetten fähig war. Weil Willy eben keinen Sinn fürs Praktische hatte, darum. Weil in seinem Hirn Chaos herrschte, weil er sterbenskrank war und überhaupt nicht in der Verfassung, noch irgend etwas auf die Reihe zu kriegen. Zumindest hatte er mit Mrs. Swanson darüber gesprochen - beziehungsweise würde das noch tun, sobald Mrs. Swanson ihn im Krankenhaus besuchen kam. »Kämmen Sie die Stadt nach ihm durch«, würde er sagen, und nachdem er ihr eine ausführliche Beschreibung von Mr. Bones gegeben hätte, würde er ihre Hand nehmen und sie anflehen. »Er braucht ein Zuhause. Wenn Sie ihn nicht aufnehmen, ist er erledigt.« Aber Willy würde erst morgen sterben, und bis Mrs. Swanson das Krankenhaus wieder verließ und nach Hause ging, würde Mr. Bones schon den ganzen Tag, die ganze Nacht und noch weit bis in den nächsten Tag hinein durch die Straßen gezogen sein. Vielleicht war ihr nicht danach, sofort nach ihm zu suchen, vielleicht erst am Tag, und dieses Baltimore war ein großer Ort, eine Stadt mit zehntausend Straßen und Gassen, und wer wußte schon, wo er bis dahin sein würde? Um einander zu finden, brauchten sie Glück, immenses Glück, Glück, das schon an ein Wunder grenzte. Und Mr. Bones, der nicht mehr an Wunder glaubte, ermahnte sich, lieber nicht damit zu rechnen.
    Es gab genug Pfützen, in denen er seinen Durst stillen konnte, wann immer er eine trockene Kehle bekam, aber das mit dem Futter stand auf einem anderen Blatt, und da er seit fast zwei Tagen keinen Krümel mehr zu fressen bekommen hatte, knurrte sein Magen heftig danach, gefüllt zu werden. Und so gewann sein Körper nach und nach die Oberhand über seinen Geist, und sein dumpfes Brüten über versäumte Gelegenheiten wich einer umfassenden Suche nach etwas Freßbarem. Es war später Vormittag geworden, vielleicht sogar schon früher Nachmittag, und die Menschen waren endlich alle auf, hatten sich von ihrem Sonntagsschlaf erhoben, schlurften in ihren Küchen umher und machten Frühstück und Brunch. Aus nahezu jedem Haus, an dem er vorbeikam, überfiel ihn der Duft von Schinken, der auf dem Ofen brutzelte, von Eiern, die in der Pfanne brieten, und von warmem Toast, der aus dem Toaster sprang. Das war ein übler Streich, fand er, eine Grausamkeit, ihm so etwas in seinem gegenwärtigen Zustand der Angst und des Hungers anzutun, aber er widerstand dem Drang, an den Türen um Futter zu betteln, und lief weiter. Willys Lektion klang ihm deutlich in den Ohren: Ein Streuner hatte keine Freunde, und wenn er an den Falschen geriet, würde er im Tierheim landen - von wo noch nie ein Hund zurückgekehrt war.
    Wenn er nur seinen Jagd- und Beutetrieb besser entwickelt hätte, wäre er jetzt nicht so hilflos gewesen. Aber er hatte sich zu viele Jahre in seiner Rolle als Vertrauter und chien a tout faire an Willys Seite in der Welt herumgetrieben, und all seine angeborenen wölfischen Instinkte waren längst verkümmert und verschüttet. Er war zu einem sanften, verweichlichten Tier geworden, zu einem denkenden statt einem athletischen Hund, und soweit er sich zurückerinnern konnte, hatten sich stets andere um seine körperlichen Bedürfnisse gekümmert. Aber das war nun mal der Handel, oder? Der Mensch gab einem zu fressen und einen Platz zum Schlafen, und die Gegenleistung waren Liebe und nie ermüdende Loyalität. Doch nun, da Willy nicht mehr da war, mußte Mr. Bones alles vergessen, was er wußte, und noch einmal ganz von vorn anfangen. Waren so einschneidende Veränderungen überhaupt möglich? Mr. Bones hatte schon früher herrenlose Hunde getroffen, aber nie etwas anderes als Mitleid mit ihnen empfunden - Mitleid und eine Spur Verachtung. Ihre Einsamkeit war einfach zu grausam, als daß man lange hätte darüber nachdenken mögen, und er war stets auf sichere Distanz zu ihnen geblieben, auf der Hut vor den in ihrem Fell verborgenen Wanzen und Flöhen und in angstvoller Sorge, daß sich die Krankheiten und die Verzweiflung, die sie in sich trugen, auf ihn übertragen würden. Vielleicht war er ja ein Snob geworden, aber er roch diese heruntergekommenen Gestalten schon auf drei Meilen gegen den Wind. Sie bewegten sich anders als andere Hunde,

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