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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Weiden schlafen, weil es sonst nichts anderes gibt. Bevor du anfängst, dich allzusehr zu bemitleiden, denk dran, daß du nicht der erste Hund bist, der sich nicht mehr zurechtfindet.«
    Sechzehn Stunden später befand sich Mr. Bones zehn Meilen südlich der Weide, auf der er diesen Traum gehabt hatte, und trat am Rande einer frisch erbauten Siedlung von zweigeschossigen Wohnhäusern aus einem kleinen Wäldchen. Er hatte keine Angst mehr. Er war zwar hungrig und ziemlich müde, aber der Schrecken, der in den letzten paar Tagen in ihm aufgestiegen war, war fast ganz verschwunden. Er hatte keine Ahnung warum, aber Tatsache war, daß es ihm nach dem Aufwachen viel, viel besser gegangen war als in der ganzen Zeit seit Willys Tod. Er wußte, daß Willy nicht wirklich mit ihm in der U-Bahn gewesen war, und er wußte, daß er nicht wirklich sprechen konnte, aber im Nachglanz dieses Traums von unmöglichen und wunderschönen Dingen spürte er, daß Willy noch immer bei ihm war. Und selbst wenn Willy nicht wirklich bei ihm sein konnte, war es doch so, als wache er über ihn, und selbst wenn die Augen, die auf ihn herabschauten, in Wahrheit nur in ihm selbst vorhanden waren, war es egal, denn diese Augen machten exakt den Unterschied zwischen dem Gefühl aus, ganz allein auf der Welt zu sein, und dem, nicht allein zu sein. Mr. Bones war nicht besonders gut darin, die Feinheiten von Träumen, Visionen und anderen geistigen Phänomenen auseinanderzufieseln, aber er wußte ganz genau, daß Willy nun in Timbuktu lebte, und wenn er unlängst mit ihm zusammengewesen war, hieß das vielleicht, daß ihn der Traum ebenfalls nach Timbuktu geführt hatte. Das mochte erklären, warum er plötzlich in der Lage gewesen war zu sprechen - nach all den Jahren vergeblicher Liebesmüh. Und wenn er schon einmal in Timbuktu gewesen war, war es dann zu vermessen zu glauben, er könnte es vielleicht schaffen, erneut dorthin zu gelangen, indem er einfach die Augen schloß und zufällig auf den richtigen Traum stieß? Sicher konnte er sich dessen nicht sein. Aber der Gedanke war tröstlich, so wie es tröstlich gewesen war, diese Zeit mit seinem alten Freund zu verbringen, auch wenn nichts von alldem wirklich geschehen war und nichts von alldem je wieder geschehen würde.
    Es war drei Uhr nachmittags, und die Luft war erfüllt von den Geräuschen der Rasenmäher, Sprinkler und Vögel. Weit entfernt, auf einem unsichtbaren Highway im Norden, summte ein dumpfer Bienenschwarm von Verkehrslärm unter dem Vorstadthimmel. Jemand drehte ein Radio an, und eine Frauenstimme begann zu singen. In der Nähe lachte jemand. Es klang wie das Lachen eines kleinen Kindes, und als Mr. Bones schließlich an den Rand des Waldes kam, durch den er in der letzten halben Stunde gestreift war, schob er die Schnauze durchs Unterholz und sah, daß es sich wirklich um ein kleines Kind handelte. Ein flachsblonder Junge von zwei oder drei Jahren hockte drei Meter von ihm entfernt auf dem Boden, riß Grasbüschel aus und warf sie in die Luft. Jedesmal, wenn ihm wieder ein Grasschauer auf dem Kopf landete, brach er in Lachen aus, klatschte in die Hände und hopste auf und ab, als sei er auf den erstaunlichsten Trick der Welt gekommen. Zehn, zwölf Meter hinter dem Jungen wanderte ein bebrilltes Mädchen mit einer Puppe auf dem Arm hin und her und sang dem Spielzeugbaby leise etwas vor, als wolle sie es in den Schlaf wiegen. Schwer zu schätzen, wie alt sie war. So zwischen sieben und neun, dachte Mr. Bones, aber sie hätte auch ziemlich groß für sechs oder ziemlich klein für zehn sein können, vielleicht sogar eine noch größere Fünfjährige oder eine noch kleinere Elfjährige. Links von dem Mädchen beugte sich eine Frau in weißen Shorts und einem weißen, hinterm Hals geknoteten Oberteil über ein Beet mit roten und gelben Blumen und jätete mit einem Pflanzenheber sorgsam Unkraut. Sie stand mit dem Rücken zu Mr. Bones, und weil sie einen Strohhut mit einer sehr breiten Krempe trug, war ihr Gesicht völlig verborgen. Er sah nur ihre Wirbelsäule, die Sommersprossen auf ihren schlanken Armen, den weißen Fleck eines Knies, doch selbst an diesen dürftigen Details konnte er erkennen, daß sie nicht alt war, höchstens siebenundzwanzig, achtundzwanzig, was womöglich bedeutete, daß sie die Mutter der beiden Kinder war. Mr. Bones hütete sich, näher zu kommen, blieb an Ort und Stelle und beobachtete die Szene von seinem Versteck am Waldrand aus. Er hatte keine Möglichkeit

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