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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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festzustellen, ob diese Familie für oder gegen Hunde war, ob sie ihn freundlich aufnehmen oder von ihrem Grundstück jagen würde. Eins stand allerdings fest. Er war auf einen sehr schönen Rasen gestoßen. Während er so dastand und den Streifen gutgepflegten grünen Samt betrachtete, der da vor ihm lag, wurde ihm klar, daß es keiner großen Phantasie bedurfte, um zu wissen, wie gut es sich anfühlen würde, sich auf dem Gras zu rollen und all die Gerüche aufzunehmen, die ihm entströmten.
    Bevor er sich entschließen konnte, was er nun tun wollte, wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Der Junge schleuderte zwei weitere Fäuste Gras in die Luft, doch diesmal fielen sie ihm nicht auf den Kopf wie zuvor, sondern wurden von einer kleinen Brise erfaßt, die soeben aufgekommen war, und in Richtung Wald getragen. Der Junge drehte sich um, um den Flug der grünen Halme zu verfolgen, und als er den Blick Mr. Bones zuwandte, sah der seinen Gesichtsausdruck von der Nüchternheit wissenschaftlicher Beobachtung zu völliger Überraschung wechseln. Er war entdeckt. Der Junge sprang auf und kam, vor Freude quietschend, in seiner dicken Windel auf ihn zugewatschelt, und Mr. Bones, der seine ganze Zukunft auf dem Spiel stehen sah, beschloß, daß der Augenblick gekommen war, auf den er gewartet hatte. Er verschwand nicht im Wald, und er rannte nicht davon, sondern trat so ruhig, gelassen und vorsichtig, wie er nur konnte, hinaus auf den Rasen und ließ sich von dem Jungen in die Arme schließen. »Wauwau!« quietschte der kleine Mann und drückte mit aller Kraft zu. »Lieber Wauwau. Großer alter, lustiger Wauwau.«
    Dann kam das Mädchen mit der Puppe im Arm über den Rasen gelaufen und rief der Frau hinter sich etwas zu. »Schau mal, Mama«, sagte sie. »Schau mal, was Tiger gefunden hat.« Obwohl der Junge ihn weiter umarmte, durchfuhr Mr. Bones ein ziemlicher Schreck. Wo war dieser Tiger, von dem sie sprach - und wie konnte ein Tiger hier herumschleichen, wo Menschen lebten? Willy hatte ihn mal in den Zoo mitgenommen, und er wußte alles über diese großen, gestreiften Dschungelkatzen. Sie waren sogar noch größer als Löwen, und wenn man je auf eines dieser scharfzahnigen Viecher stieß, durfte man seiner Zukunft getrost Adieu sagen. Ein Tiger konnte einen in zirka zwölf Sekunden in Stücke reißen, und was immer er von einem als ungenießbar übrigließ, war ein Festmahl für die Geier und Würmer.
    Und doch rannte Mr. Bones nicht weg. Er ließ sich weiter von seinem neuen Freund umschlingen, ertrug geduldig die ganze Last der phänomenalen Kräfte des kleinen Schlingels und hoffte, daß ihn sein Gehör getäuscht und er einfach nur mißverstanden hatte, was das Mädchen gesagt hatte. Die volle Windel roch nach Urin, und über den scharfen Ammoniakgeruch hinweg konnte er Spuren von Möhren, Bananen und Milch erschnüffeln. Dann kauerte sich das Mädchen neben ihn, schaute ihn aus durch die Brille vergrößerten blauen Augen an, und plötzlich wurde das Geheimnis gelüftet. »Tiger«, sagte sie zu dem Jungen, »laß ihn los. Du erwürgst ihn ja.«
    »Mein Wauwau«, sagte Tiger und umklammerte ihn noch fester, und obwohl Mr. Bones froh war zu hören, daß er nicht von einem wilden Tier verschlungen werden sollte, war der Druck um seinen Hals so stark, daß er zu zappeln begann. Der Junge mochte kein richtiger Tiger sein, aber das hieß noch nicht, daß er ungefährlich war. Auf seine Weise war er wohl mehr ein Tier als Mr. Bones.
    Zum Glück kam in diesem Augenblick die Frau herbei, griff nach dem Arm des Jungen und befreite Mr. Bones von ihm, bevor er größeren Schaden anrichten konnte. »Vorsicht, Tiger«, sagte sie. »Wir wissen ja nicht, ob das ein netter Hund ist oder nicht.«
    »Ach, der ist bestimmt nett«, sagte das Mädchen und tätschelte Mr. Bones sanft den Kopf. »Schau ihm doch nur mal in die Augen. Er ist ganz lieb, Mama. Ich würde sagen, das ist der liebste Hund, den ich je gesehen habe.«
    Mr. Bones war erstaunt über diese außergewöhnliche Feststellung, und nur um zu beweisen, daß er tatsächlich ein guter Kerl war, ein Hund, der einem nichts nachtrug, schleckte er Tiger in einem Anfall von sabbernder Zuneigung das Gesicht ab. Der Kleine schrie vor Lachen, und obwohl er unter dem Angriff von Mr. Bones’ Zunge schließlich das Gleichgewicht verlor, hielt der rauhbeinige Tiger das für die witzigste Sache, die er je erlebt hatte, und er lachte selbst dann noch unter dem Bombardement der Hundeküsse,

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