Timeless: Roman (German Edition)
nicht gewohnt gewesen, dass Marion Geheimnisse vor ihr hatte. Warum jetzt, wo sie keine Möglichkeit hatte, die Wahrheit herauszufinden?
Michele lag auf ihrem Bett, starrte ins Leere und versuchte, sich zu beruhigen. Und da sah sie es – etwas, das ihr zuvor nicht aufgefallen war: ein Schloss an der obersten Schublade ihres antiken Schreibtischs.
Neugierig stand Michele auf und rüttelte am Knauf der verschlossenen Schublade. Sie hörte, wie etwas dumpf aufschlug: In dieser Schublade befand sich etwas Schweres. Was konnte es sein?
Michele schnappte sich ein paar Haarnadeln von ihrem Frisiertisch, steckte sie ins Schloss und drehte sie hin und her, doch ohne Erfolg. Das Schloss ließ sich nicht öffnen. Na, dann nicht , dachte sie enttäuscht.
Als sie gerade wieder in ihr Bett zurückkehren wollte, sah sie, dass der Schlüssel ihres Vaters, der auf ihrer Kommode lag, ganz leicht zitterte – genau so, wie er es am Tag zuvor getan hatte. Aber das bildete sie sich sicher nur ein … oder?
Michele ließ sich wieder aufs Bett fallen und betrachtete argwöhnisch den Schlüssel. Plötzlich geschah es wieder – der Schlüssel zitterte und bewegte sich von links nach rechts. Michele schrie auf und wich zurück. Werde ich verrückt? , dachte sie voller Angst. Ist es nicht so, wenn Menschen den Verstand verlieren?
Der Schlüssel vollführte weiterhin seine seltsamen Bewegungen, als wollte er mit aller Macht Micheles Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Michele kniff sich, so fest sie konnte, und zuckte vor Schmerz zusammen. Dies hier war eindeutig kein Traum.
Ihr Blick fiel auf die verschlossene Schublade. Als sie wieder zu dem lebendigen Schlüssel zurückblickte, kam ihr plötzlich eine Idee. Es war verrückt … aber sie musste etwas tun, um die zuckenden Bewegungen des Schlüssels zu stoppen.
Michele nahm all ihren Mut zusammen und ging hinüber zu ihrer Kommode. Sie kniff die Augen zusammen und griff nach dem Schlüssel. Er verharrte, und sie nahm ihn in die Hand. Mit angehaltenem Atem näherte sie sich ihrem Schreibtisch. Als sie versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zitterte ihre Hand.
Der Schlüssel erwachte zum Leben. Michele schrie wieder auf und stolperte rückwärts, denn der Schlüssel passte nicht ins Schloss, sondern verschmolz mit ihm wie ein Magnet, funkelte und bewegte sich, als sei in ihm eine Batterie verborgen.
Die Schreibtischschublade glitt auf, und der Schlüssel fiel hinein.
Zuerst hatte Michele zu viel Angst, um in die Schublade hineinzuschauen. Welche andere verrückte Zauberei würde sie dort erwarten? Doch ihre Neugier gewann die Oberhand, und vorsichtig wagte sie einen Blick hinein.
In der Schublade lag ein alt aussehendes, ledergebundenes Tagebuch. Wie ein Briefbeschwerer lag der Schlüssel obendrauf. Micheles Herz hämmerte. Hatte dieses Tagebuch ihrem Vater oder ihrer Mutter gehört? Versuchten sie, irgendwie mit ihr zu kommunizieren?
Schnell steckte sie den Schlüssel in ihre Tasche und öffnete das zerlesene, staubige Tagebuch. Doch zu ihrer Enttäuschung war auf der vorderen Umschlaginnenseite in Schönschrift der Name »Clara« eingeprägt. Daneben stand das Jahr – 1910 . Michele blätterte zur ersten vergilbten Seite.
1 0 . 1 0 . ’10
Der heutige Tag begann wie jeder andere, verwandelte sich aber rasch ins völlige Gegenteil …
Als Michele auf das Datum starrte, fiel ihr die Kinnlade herunter. Heute war auch der 10. 10. ’10 – der 10. Oktober 2010!
Genau in diesem Moment schlug die goldene Kaminuhr, und plötzlich hatte Michele das unerklärliche Gefühl, dass ihre Hände an den Tagebuchseiten festklebten. Vergeblich versuchte sie, sie wegzuziehen.
Was ist das? , dachte sie ängstlich, während sie weiter versuchte, die Hände vom Tagebuch loszureißen. Haben sich die Seiten während des vergangenen Jahrhunderts in Klebstoff verwandelt, oder was?
Das Tagebuch schien sie mit einem schrecklichen Sog geradewegs in seinen Einband hineinzuziehen . Kopfüber fiel sie in einen Abgrund aus Seiten. Sie schrie auf, und ihr drehte sich der Magen, als befände sie sich in einer auf dem Kopf stehenden Achterbahn.
»Hilfe!«, kreischte sie.
Nun schwamm sie in einem Meer aus Papier und Tinte, denn das Tagebuch war auf ungeheure Größe angewachsen, fähig, sie ganz zu verschlingen. Dann verflüchtigten sich die Tagebuchseiten, und Michele schrie wieder, während sich ihr Körper gegen ihren Willen drehte und durch das Schlafzimmer wirbelte – ein Schlafzimmer, das
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