Timeless: Roman (German Edition)
ja eigentlich noch gar nicht , dachte sie grimmig.
Clara gab ein ersticktes Stöhnen von sich.
»Nein, ich bin ein guter Geist«, fügte Michele eilig hinzu. »Wie Casper, weißt du.«
Verständnislos sah Clara sie an, und Michele wurde klar, dass es Casper, den freundlichen Geist, damals noch gar nicht gegeben hatte. »Ich meine … ich bin hier, um dir zu helfen.« Das ist wahrscheinlich das Dümmste, was ich hätte sagen können , dachte Michele, doch zu ihrer Überraschung schien die Angst bei diesen Worten aus Claras Augen zu weichen, und sie sah Michele erwartungsvoll an.
»Hat meine Mutter dich geschickt?«, flüsterte Clara hoffnungsvoll.
»Was? Ich … ich weiß es nicht«, stammelte Michele.
»Ich habe gerade eben gebetet, dass sie mir hilft – oder mir Hilfe schickt«, sagte Clara.
»Moment mal … deine Mom ist also auch gestorben?«, fragte Michele. Die ganze Situation hätte nicht unheimlicher oder unglaublicher sein können. »Warum brauchst du Hilfe?«
Clara holte tief Luft und erzählte Michele ihre Geschichte. Während sie sprach, konnte Michele die Worte vor ihrem geistigen Auge sehen, geschrieben in Claras Handschrift. Sie erinnerte sich, dass diese Worte auf den Seiten des Tagebucheintrags vom 10. Oktober 1910 standen – sie hatte sie gerade gelesen, als sie durch die Zeit zurückgeschickt worden war.
»Heute Abend siehst du mich umgeben von Gold und Glanz … doch bis jetzt habe ich nur den Dreck und Staub der Straßen gekannt«, begann Clara. »Während andere Mädchen meines Alters ihre ersten Küsse bekamen und ihre ersten Fahrten in einem Auto unternahmen, verbrachte ich meine Tage im örtlichen Waisenheim – meinem Zuhause seit dem Tod meiner Eltern, als ich noch klein war. Alles, was ich je gehabt habe, ist Klugheit. Ich habe die anderen Waisen unterrichtet, um mir meine Unterkunft und Verpflegung zu verdienen, und mich selbst mithilfe der Bücher in der Bibliothek … meinem Rückzugsort … gebildet.
Der heutige Tag begann wie jeder andere, verwandelte sich aber rasch ins völlige Gegenteil, als der Butler der berühmten Familie Windsor überraschend im Waisenhaus auftauchte. Der Patriarch der Familie, George Windsor, hatte irgendwie von meiner Existenz erfahren und darauf bestanden, mich als Pflegetochter bei sich aufzunehmen. Ich kann es nicht verstehen, und aus dem, was man mir sagt, schließe ich, dass man mir eine Familie auf Probe gibt. Aber wieso sollten sie einen Teenager aufnehmen, noch dazu einen, den sie gar nicht kennen? Was wollen sie mit mir ?
Es war mir nicht erlaubt, Einwände zu erheben oder die Sache infrage zu stellen. Man befahl mir einfach, meine Taschen zu packen und das einzige Zuhause zu verlassen, das ich je gekannt habe. Ich kam hier an, und meine neue Familie wartete in der Grand Hall auf mich. Jetzt habe ich den Präsidenten der Eisenbahn als Vater, eine Salonlöwin als Mutter, einen achtzehn Jahre alten Bruder und zwei Schwestern: die siebzehnjährige Violet und die zehnjährige Frances. Doch außer Mr. Windsor scheint mich niemand hier haben zu wollen. Ich glaube, dass die anderen mich loswerden möchten. Was also wird mit mir geschehen? Warum bin ich hier?«
Clara umklammerte Micheles Hand und sah sie flehentlich an. »Wirst du mir helfen? Hilf mir, die Wahrheit darüber zu erfahren, warum ich zu den Windsors gebracht wurde. Deswegen bist du doch hierhergekommen, nicht wahr?«
Michele hatte keine Ahnung, wie sie Clara helfen sollte – doch die Ähnlichkeit zwischen Claras Schicksal und ihrem eigenen verblüffte sie. Auch wenn hundert Jahre dazwischen lagen: Sie waren beide aus unerklärlichen Gründen hierhergeschickt worden, um bei den Windsors zu leben, und sie suchten beide die Antwort nach dem Warum.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Michele.
»Michele!«
Sie hob den Kopf, und mit einem Mal war die Welt wieder normal. Michele war zurück in ihrem Schlafzimmer im Jahr 2010. Claras Habseligkeiten waren verschwunden, mit Ausnahme des Tagebuchs in Micheles Händen, und Annaleigh fragte sie durch die Sprechanlage, ob es ihr recht sei, wenn man ihr nun das Abendessen nach oben bringe.
Einen Moment lang war Michele zu fassungslos, um zu antworten. Sie starrte auf das Tagebuch und fragte sich, ob das Gespräch mit Clara tatsächlich stattgefunden hatte … oder hatte sich das alles nur in ihrem Kopf abgespielt? War sie tatsächlich verrückt? Und wie kam es, dass die Reise zurück in die Vergangenheit ein solcher Albtraum gewesen
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