Timeless: Roman (German Edition)
sie an diesem schicksalhaften Tag nach Hause kam, wo sie Marion vorfand, die mit einem Snack auf sie wartete, gespannt darauf, wie ihr Tag verlaufen war. Eben so wie immer …
Michele spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und starrte auf den Teppich, um sie vor Caissie zu verbergen. »Tut mir leid, dass ich eine so schlechte Gastgeberin bin. Aber meine Großmutter hat mir nicht erzählt, dass du vorbeikommst, und ich fühle mich heute überhaupt nicht gut … Ich kann mich irgendwie zu nichts aufraffen.«
»Verstehe«, antwortete Caissie verlegen. »Ich sollte sowieso gehen.«
Michele stand auf, um Caissie zur Tür zu begleiten. »Es war nett, dich kennenzulernen«, sagte sie und wandte noch immer das Gesicht ab, damit Caissie ihre Tränen nicht sah.
»Dich auch. Tschüs.« Und damit flog Caissie praktisch die Treppe hinunter.
Spät am Abend wurde Michele durch einen entsetzlichen Schrei aus dem Schlaf gerissen. Sie saß kerzengerade da, als ein zweiter Schrei ertönte. Unfähig, einfach dazusitzen und zuzuhören, warf sie die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Sie öffnete die Schlafzimmertür und trat hinaus in den stockfinsteren Korridor.
Einen Moment lang zögerte sie. Die Dunkelheit hüllte das Schloss bedrohlich ein und machte das helle, palastartige Haus unheimlich – wie in einem Hitchcock-Film. Doch da war es wieder, dieses Schreien und Schluchzen, und Michele ging entschlossen weiter. Sie musste herausfinden, wer diese entsetzlichen Laute von sich gab.
Gegen die Wand gelehnt, tastete sich Michele weiter vor und kam dem Geräusch näher. Und plötzlich wurde ihr klar, dass das Schluchzen aus dem großen Schlafzimmer drang. Es war ihre Großmutter.
Überrascht blieb Michele stehen. Und dann hörte sie Dorothy mit heiserer Stimme klagen: »Wir hätten es ihr sagen sollen …« Oder war es »hätten es ihr nicht sagen sollen«? Michele hatte es nicht genau verstanden. Bezog sich »sie« auf Michele oder auf Marion?
Vor lauter Fragen schwirrte ihr der Kopf, aber eines war sicher: Die stoische, beherrschte Dorothy, die sie kennengelernt hatte, war eine Fassade. Es war nur allzu deutlich, dass es ihrer Großmutter überhaupt nicht gut ging.
Mit der für ihn typischen leisen Stimme murmelte Walter etwas, das Michele nicht verstand. Sie schlich sich zur Tür des großen Schlafzimmers, doch als sie diese erreichte, stand sie verunsichert da. Was sollte sie tun? Ins Zimmer stürzen und fragen, was los war?
»Nein, Walter! Es tut mir weh, wenn ich sie anschaue – es ist, als befände sich ein Geist im Haus«, rief Dorothy aus.
Michele schnappte nach Luft und trat einen Schritt zurück, doch genau in diesem Moment flog die Tür auf. Entsetzt starrte Walter sie an.
»Lauschst du hier etwa heimlich?«, fuhr er sie an.
»Tut mir leid – das wollte ich nicht –, ich habe jemanden weinen gehört«, stammelte Michele.
»Deine Großmutter ist im Moment nicht sie selbst«, sagte Walter sanfter. »Sie trauert um Marion. So wie wir alle.«
Michele nickte und wollte nur noch weg. »Ich gehe wieder in mein Zimmer – tut mir leid.«
Ohne einen Blick zurück eilte Michele in ihr Zimmer. Tränen traten ihr in die Augen. Plötzlich hatte sie Angst vor ihren Großeltern, und obwohl sie das Gegenteil behaupteten, hatte sie das deutliche Gefühl, hier unerwünscht zu sein.
Eines war sicher: Michele würde sich so weit wie möglich von ihnen fernhalten.
Michele lag auf dem Bauch, ihr Notizbuch vor sich auf dem Kissen, und versuchte zu schreiben. Unruhig kaute sie auf dem Ende ihres Stifts herum und fragte sich, ob sie mit ihrer Mutter auch ihr Talent verloren hatte. Seit Marions Tod hatte sie keinen vernünftigen Satz mehr zustande gebracht.
Draußen fiel starker Regen, und der graue Himmel hüllte ihr Zimmer in ein gespenstisches Licht. Michele fröstelte und zog sich den Bademantel fester um die Schultern. Ein Blick auf die Kaminuhr verriet ihr, dass es erst kurz nach halb sieben war. Morgen war Montag, der 11. Oktober – ihr erster Tag in der Berkshire Highschool. Bei diesem trostlosen Gedanken schleuderte Michele Notizbuch und Stift durchs Zimmer, wo sie direkt neben ihrem Schreibtisch landeten.
Wohl schon zum tausendsten Mal fragte sie sich, wie sich ihre Mutter nur hatte vorstellen können, dass Michele in diese neue Welt passen oder sich in ihr wohlfühlen würde. Warum hat sie mir nicht gesagt, dass sie ihre Eltern in ihrem Testament zu meinen Vormunden bestimmt hat?
Michele war es
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