Timeless: Roman (German Edition)
frostig.
»Violet«, warnte George sie und wurde puterrot.
Michele wurde hellhörig. Was verheimlichte George?
»Ich bin davon überzeugt, dass Claras plötzliche Aufnahme in unsere Familie Mutter endgültig den Beweis für deine Untreue geliefert hat«, bemerkte Violet giftig. »Hast du vor, den größten Skandal zu entfachen, den die New Yorker Gesellschaft je erlebt hat?«
Michele hielt sich die Hand vor den Mund. Glaubte Violet wirklich, was Michele vermutete – dass George Windsor Claras Vater war?
George wurde wütend. »Du hast nicht das Recht, so mit deinem Vater zu sprechen …«
Michele wandte sich ab, stieß aber mit jemandem zusammen. Clara. Aus ihrem Gesichtsausdruck schloss Michele, dass sie jedes Wort gehört hatte.
Violet und George blickten hoch. Als George sah, dass Clara sie belauscht hatte, wurde er aschfahl. Clara rannte aus dem Frühstückszimmer, Michele ihr dicht auf den Fersen. Eine Familie, die gerade den Ball verlassen wollte, schob sich zwischen die beiden Mädchen, und Michele verlor Clara in der Menge.
Sie befand sich nicht unter den Ballgästen, die gerade im Ballsaal die Quadrille tanzten, sich in der Grand Hall aufhielten oder im Wohnzimmer eisgekühlte Limonade tranken und Gebäck knabberten. Michele überlegte, dass sich Clara vielleicht in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatte, und eilte in den dritten Stock. Als sie sich der Schlafzimmertür näherte, hörte sie unterdrücktes Schluchzen. Sie hatte das Gefühl, Clara beschützen zu müssen. Als sie eintrat, sah sie, wie Clara auf ihrem Bett kniete und ein zerknittertes Schwarz-Weiß-Foto umklammert hielt.
»Hi«, sagte Michele behutsam, setzte sich neben Clara und betrachtete das Foto. Es war mit den Jahren verblasst, doch Michele konnte ein Paar erkennen: Ein Mann im Anzug mit einer Melone auf dem Kopf und einem Schnurrbart stand Hand in Hand mit einer jungen Frau in einem langen dunklen Mantel über einem schlichten bodenlangen Rock und einer Bluse. Sie hatte ihr Haar zu einem Knoten gedreht. Auf dem Foto stand: 9. April 1897.
»Sind das deine Eltern?«
Clara nickte. »Sie starben, als ich vier war. Als ich ins Waisenhaus kam, hatte ich nur noch dieses Foto.« Ihre großen Augen füllten sich mit Tränen. »Michele, glaubst du, dass meine Mutter George Windsors Geliebte war? Und dass er … mein Vater ist?«
Michele knabberte an ihrer Unterlippe. Was soll ich darauf nur antworten?
»Nun, es scheint so zu sein«, räumte sie schließlich ein.
»Ich kann es nicht glauben«, erwiderte Clara leise. »Diese schrecklichen reichen Männer. Sie glauben, Anrecht auf alle Frauen zu haben, nur weil sie über viel Geld verfügen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter eine Frau war, die mit einem anderen Mann ein Verhältnis hatte. George Windsor muss sie gezwungen haben. Aber kann ich die Tochter einer so schäbigen Verbindung sein?«
Michele wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie legte Clara den Arm um die Schulter und hielt sie, genauso, wie Marion Michele stets getröstet hatte. Es klopfte zweimal an die Tür – einmal war es Mr. Windsor, das zweite Mal die Hauswirtschafterin. Beide wollten nach Clara sehen, doch sie weigerte sich, sie zu empfangen.
Als ihre Tränen versiegt waren, fragte Clara: »Bleibst du bei mir, bis ich eingeschlafen bin? Ich möchte nicht allein sein mit meinen Gedanken.«
»Natürlich«, antwortete Michele sanft.
7
A ls Clara eine Viertelstunde später fest schlief, holte Michele den Generalschlüssel aus dem Ausschnitt ihres Kleids hervor. Sie hielt ihn fest umklammert, kniff die Augen zusammen und wiederholte ein stummes Gebet: Bitte schick mich zurück. Bitte schick mich in meine Zeit zurück.
Doch als sie die Augen öffnete, befand sie sich noch immer im Jahr 1910. Sie schluckte nervös, ihre Hände waren kalt und feucht. Was wäre, wenn die Zeitreise dieses Mal missglückte und sie in der Vergangenheit feststeckte, gezwungen, für immer dieses gespenstische Leben zu führen?
In diesem Augenblick schlug die Kaminuhr. Es war vier Uhr morgens. Im Haus war es jetzt unheimlich ruhig. Der Ball war vorüber, und die Windsors und ihre Bediensteten waren alle zu Bett gegangen.
Michele verspürte den unbändigen Drang, fortzugehen. Sie sprang von Claras Bett und steuerte auf die Schlafzimmertür zu. Bisher war sie Clara überallhin ge folgt; dabei hatte sie nicht einmal körperlich anwesend sein müssen. Sie atmete tief durch, drehte behutsam den Türknauf und lächelte, als die
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